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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coline Serreau
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— was genau, wird man nie erfahren aber zumindest künden sie von sich. Im Gras sitzen die Wanderer im Kreis, ihre Rucksäcke haben sie abgesetzt, einige haben die Schuhe ausgezogen. Guy lässt eine Packung Kekse herumgehen.
    Dies könnte ein Augenblick reinen Glücks sein, doch keiner scheint ihn so zu verstehen. Man begreift immer erst hinterher, wenn alles vorbei und vergangen ist und unwiderruflich hinter einem liegt, wie glücklich man war.
    Pierre hat einen ganzen Haufen Medikamente ausgepackt, wie besessen wühlt er darin herum, zählt die Tabletten, teilt sie ein, ordnet sie nach Farben und schluckt sie mit gequälter Miene — ein magisches Ritual gegen die Urängste.
    Claude ist immer noch gut drauf, er gibt gänzlich seinen Grundbedürfnissen nach: Er hat Durst.
    »Trinken wir einen Schluck?«
    Clara: »Du hast keinen Becher.«
    Pierre: »Du hast kein Wasser.«
    Claude: »Hast du welches?«
    Pierre: »Ja, warum?«
    Claude: »Für mich.«
    Pierre: »Wir sind die ganze Zeit bergauf gegangen, oder?«
    Claude: »Ja.«
    Pierre: »Und wer hat das Wasser den Berg hinaufgetragen?«
    Claude: »Du, Pierre — du bist stark und mutig, gegen dich kommt keiner an, dir gelingt alles, was du anpackst. Ich bewundere dich, Pierre.«
    Pierre: »Scheiß drauf.«
    Claude: »Hast du Klopapier für mich?«
    Guy spürt Gefahr heraufziehen. Zwischen den drei Geschwistern kann es jederzeit krachen.
    »Bitte, könnten Sie wohl auch anders miteinander kommunizieren als durch Beschimpfungen? Ich denke, die Gruppe würde sich darüber freuen, schließlich wollen wir noch ein paar Wochen zusam...«
    Pierre: »Jetzt hören Sie mal, ich rede, wie ich will. Im Testament meiner Mutter steht nichts davon, dass ich meinem Bruder nicht antworten darf.«
    Guy: »Ja, aber zwischen Antworten und Beschimpfen liegt ein kleiner Unterschied, der Ton macht die Mu...«
    Pierre: »Und meiner Schwester übrigens auch.«
    Clara: »Na, dann beschimpf mich doch. Ich schlag dir die Visage ein!«
    Guy: »Ich habe für alle das Essen dabei. Reissalat mit Tomaten, Thunfisch...«
    Pierre: »Provozier mich nicht!«
    Guy: »... Käse und Oliven. Zum Nachtisch Rührkuchen.«
    Clara: »Ich schlag dir die Visage ein, ich mach dich so fertig, dass du nicht mehr weißt, wie du heißt!«
    Guy: »Also, gehen wir jetzt noch ein Stündchen und picknicken dann...?«
    Pierre: »Ich mache dich fertig!«
    Guy: »...an einem sehr schönen Platz. Doch ab morgen möchte ich darum bitten, dass jeder seinen Proviant selbst trägt. Sie kennen die Regel auf Pilgerwanderungen: Jeder schleppt...«
    Clara: »... seine eigene Scheiße.«
    Guy: »... muss selbst tragen, was er braucht.«
    Clara: »Sag ich doch!«
    Claude: »Danke, Clara, du bist die tollste Lehrerin des gesamten französischen Bildungswesens. Ich merke mir die Lektion: Jeder seine eigene Scheiße.«
    Guy erhebt sich, die anderen stehen ebenfalls auf.
    Mathilde reicht Claude eine Wasserflasche. »Hier, trinken Sie. Und hören Sie jetzt auf, sich zu streiten.«
    Clara: »Oh, das hätten Sie nicht tun sollen. Bei ihm muss man von Anfang an Nein sagen. Er ist Generaldirektor einer Staubsaugerfirma, er saugt Sie aus und lässt nicht mehr von Ihnen ab, bis Sie ihm auch noch das letzte Hemd gegeben haben.«
    Claude trinkt einen Schluck, er ist ein wenig enttäuscht, dass es nur Wasser ist, von Mathilde aber ist er ganz angetan.
    Die Gruppe macht sich wieder auf den Weg.
    Mathilde meint, dass Pierre und Clara gemein zu ihrem Bruder sind. Sie findet diesen lässigen Burschen rührend, der nichts dabei hat außer der Kleidung, die er auf dem Leib trägt.
    Als sie später über einen Teppich aus Kiefernnadeln durch einen Wald gehen, schließt Claude zu Mathilde auf. Sie wandern abwechselnd durch Schatten und Licht, das durch die hohen Bäume fällt.
    Mathilde ist voller Mitgefühl.
    »Generaldirektor — das macht bestimmt viel Stress.«
    »Wem?«
    »Ihnen?«
    »Nein, nein, ich bin kein Generaldirektor, ich habe keinen Stress. Pierre, mein Bruder, ist Direktor. Ich bin arbeitslos. Langzeit.«
    »Wurden Sie entlassen?«
    »Nein, ich habe nie gearbeitet — ich habe schon immer getrunken.«
    »Ach...?«
    Und mit einem rasend charmanten Lächeln fügt er hinzu:
    »Ich bin Alkoholiker und Sozialhilfeempfänger.«
    »Ach...?«
    Claude fragt sich dabei, wann er wohl wieder mal an Alkohol kommt.
    Sein Körper leidet allmählich unter dem Entzug, die Hände zittern schon leicht; mit einem Schlückchen Whisky liefe alles gleich viel

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