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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coline Serreau
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Stunde später kommt Pierre an. Raymonde erklärt ihm die Situation und zeigt den Weg zum Frauenschlafsaal.
    Pierre ist ganz und gar nicht einverstanden, aber zu erschöpft, um sich aufzuregen. Er steigt in den ersten Stock hinauf und steht vor einem großen Raum, wo zehn Frauen, darunter seine Schwester Clara, gerade dabei sind, ihre Sachen zu verstauen, die Kleider auszuziehen und ihre Wäsche sowie sich selbst zu waschen. Tödlich verlegen und wie angewurzelt steht Pierre an der Tür und wünscht mit vor Müdigkeit und Schüchternheit heiserer Stimme: »Bonsoir, meine Damen.«
    Die neun Damen grüßen freundlich zurück, Clara wirft ihm einen tödlichen Blick zu.
    Pierre geht durch den ganzen Raum zum letzten freien Bett und lässt sich fallen, wobei er nicht einmal den Rücksack absetzt. Wie eine Schildkröte auf dem Rücken.
    Elsa und Camille haben ihr Waschzeug auf dem Bett ausgebreitet: Shampoos, Gesichts-, Körper-, Fuß-, Enthaarungscremes, Parfüms...
    Mathilde hat sich hingelegt; sie, die früher immer wie eine Gämse im Gebirge herumgesprungen ist, denkt besorgt über ihre Müdigkeit nach.
    Sie fragt sich, ob sie geheilt ist. Die Ärzte haben von einer vollständigen Besserung gesprochen. Doch wie kann eine Besserung vollständig sein? Eine Heilung ja, aber eine Besserung ist nur eine Beruhigung, ein Nachlassen des Leidens; das bedeutet dann, es ist nur vorübergehend... Es heißt ja, der Krebs kommt immer wieder. Aber wann? Sie verdrängt die düsteren Gedanken, mit denen sie allein ist unter all den anderen. Sie lässt das Desaster ihres Lebens noch einmal Revue passieren — ihre schmerzliche Scheidung, ihre heranwachsenden, gedankenlosen Kinder, die sie nur selten im Krankenhaus besucht haben, die unüberwindliche Einsamkeit, die Schwerkranke irgendwann umgibt wie Schwerverbrecher im Gefängnis, wenn sie von niemandem mehr Besuch bekommen außer von ihrer Mutter. Und Mathilde hat ihre Mutter schon vor langer Zeit verloren.
    Doch dann denkt sie: Ich bin nicht im Gefängnis. Ich sehe wieder die Bäume in dem Wald, den ich heute Morgen durchquert habe. Und sie sagt sich: Heute war ein schöner Tag. Auch morgen werde ich leben. Und wandern.
    Sie steht auf und wäscht ihre Wäsche.

    Im Männerschlafsaal leeren Said und Ramzi den dürftigen Inhalt ihrer Rucksäcke auf dem Bett aus, darunter ein Stück Seife.
    Ramzi nimmt es. »Ich geh duschen.«
    »Aber lass die Seife nicht zu lange im Wasser liegen!«, ruft Said ihm nach.
    Wie alle Pilger hatte auch Said die Liste mit den notwendigen Ausrüstungsgegenständen bekommen. Dabei war es ihm eiskalt über den Rücken gelaufen. Die Ersparnisse von Ramzis Mutter reichten schon kaum aus, um ihren Sohn nach Mekka zu schicken - das heißt, um die Rechnung von Chemin Faisant für die Pilgerreise zu begleichen — , und dann noch diese Liste... Said stopfte dann eben einfach ein paar Dinge, die zu Hause verfügbar waren, in die Rucksäcke, und damit basta. Von der Seife musste er ein Stück abschneiden, ein kleines Stück; seine Mutter war dagegen, dass er die ganze Seife mitnahm.

    Draußen steht Claude, die Hände in den Taschen, und erfreut sich an der Landschaft. Es geht ein Wind, der Himmel ist dunkel außer an der Stelle, wo die Sonne gerade untergeht und orangerote Strahlen auf Berge und Wiesen wirft.
    Mathilde, Camille und Elsa kommen nach draußen und wollen ihre Wäsche aufhängen, aber die Leine ist schon ganz voll, also legen sie ihre Sachen zum Trocknen auf die warmen Steine.
    Camille und Elsa gehen gleich wieder hinein, sie sterben vor Hunger und reden nur übers Essen, über Nudeln, Soßen, Käse.
    Mathilde stellt sich zu Claude, er lächelt sie an und fragt: »Alles klar?«
    »Ja.«
    »Schön hier, was?«
    »Ja. Haben Sie keine Wäsche zu waschen?«
    »Nein. Nein, nichts... Ach, Sie tragen ja nun ein grünes Kopftuch. Auch das steht Ihnen gut.«
    Das Abendessen wird an zwei langen Tischen im Saal serviert. Ein offenes Feuer in einem Kamin, so hoch, dass man aufrecht darin stehen könnte, erleuchtet den Raum. Die Pilger lassen sich eine Gemüsesuppe schmecken. Raymonde wirft ein baumdickes Scheit ins Feuer. Clara, die sich in dieser spartanischen Umgebung ziemlich wohlfühlt, beobachtet spöttisch ihren Bruder Pierre, der sich wieder mit seinen Pillen herumschlägt.
    »Und? Hat dich der Herbergsgedanke inspiriert?«
    Pierre lässt sich zu keiner Antwort herab, er schluckt eine Tablette.
    Raymonde bringt eine Platte Braten mit Soße und einen Krug Wein.

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