Pilgern auf Französisch
seiner Verzweiflung über den Analphabetismus seines Vetters, hat sich dazu entschlossen, Ramzi Unterricht im Lesen zu geben.
Auf einen kleinen Zettel malt sie Buchstaben, Ramzi hört ihr konzentriert zu.
»Das ist ein A, okay? A. Zwei Schrägstriche, ein Querstrich. Wie eine aufgestellte Leiter. A. Ja?«
Ramzi: »A.«
»Und das ist ein B, okay? Ein senkrechter Strich, zwei Bäuche. B. Ja?«
Ramzi: »Ja. B.«
»Wenn ich das B vor das A stelle, ergibt das BA. Ja?«
Ramzi: »Ja. BA.«
»Gut. Was heißt das hier also?«
Ramzi: »BA.«
»Prima, jetzt kannst du lesen. Wenn du das begriffen hast, kannst du lesen. Das war’s.«
Ramzi: »Ich kann aber doch noch nich alles lesen.«
In diesem Moment tritt Clara aus der Herberge und trägt ihre nasse Wäsche zum Ständer neben Camilles und Ramzis Tisch. Sie hört Camilles letzten Satz. Pädagogik ist Claras Leben, und sie interessiert sich brennend für diese Unterrichtsstunde, sie kann nicht anders. Also trödelt sie beim Aufhängen und hört zu, lässt sich aber nichts anmerken.
»Doch, du kannst alles lesen, denn das ist die Grundlage. Verstehst du? Es geht immer in derselben Weise weiter. Danach kommt das C, eine Mondsichel. Ja? C wie Tse.«
Ramzi: »Tse.«
»Wenn ich das C vor das A stelle, was gibt das dann?«
Ramzi: »C vor A?«
»C oder Tse, der Buchstabe wird C geschrieben, aber Tse ausgesprochen, das heißt, nur vor bestimmten Vokalen, denn vor anderen Buchstaben wird es KA gesprochen wie in Camille; vor einem H wird es auch zu KA wie in Chamäleon oder Sch wie in Champignon, Tsch wie in Champion, es gibt auch das dunkle Cho wie in Cho-lesterin und das helle Chi wie in Chi-na. Verstehst du?«
Clara verdreht die Augen: Diese ganze Erklärerei kann man sich in die Haare schmieren. Wenn die Kleine so weitermacht, erreicht sie nichts. Clara, die Ramzi für kein Geld der Welt das Lesen beibringen wollte, triumphiert tief in ihrem Innern, weil Camilles Methode zum Scheitern verurteilt ist. Die große Profi-Lehrerin hat in dem Fräulein die kleine Dilettantin gewittert und amüsiert sich köstlich.
Ramzi, dankbar und fügsam, tut so, als hätte er verstanden: »Ja. Chi-na.«
»Und was ergibt nun ein C vor einem A?«
Ramzi: »Äh... ’ne Mondsichel vor ’ner aufgestellten Leiter...«
»Das gibt CA. Klar?«
Ramzi: »Klar. CA.«
»Wenn ich nun das BA vor das CA stelle — was ergibt das?«
Ramzi: »Hm... Wie war das noch mal?«
»Das Erste war BA.«
Ramzi: »Und das andere?«
»CA.«
Ramzi: »Ah ja, CA, das haste mir ja gerade gesagt. Was bin ich doch für’n Esel! Also... das ergibt... CABA. Ha, das is ja wie die CABA von Mekka...«
»Nein, das gibt nicht CABA, sondern BACA, das BA ist doch vor dem CA. Verstehst du?«
Ramzi: »Ja, gut. BACA Und was heißt BACA?«
»Ach, BACA heißt gar nichts, damit wollte ich dir doch nur zeigen, wie die Wörter aufgebaut sind. Verstehst du?«
Clara verdreht die Augen noch heftiger: Also so was! Das erste Wort, das er lernt, gibt es gar nicht! Und der Junge baut ihr sogar noch eine Brücke, indem er selbst ein eigenes Wort findet, das er kennt: Kaaba. Aber nein, da klingeln dem Fräulein Lehrerin, dieser kleinen Schickse, keineswegs die Ohren. »Schickse« ist eine von Claras Lieblingsvokabeln, sie gebraucht sie oft, um ihre Verachtung für inkompetente Angeberinnen auszudrücken. Sie muss sich nun wirklich sehr zusammennehmen, um nicht einzugreifen, und geht lieber weg.
Ramzi ist völlig von der Rolle.
»Das is echt cool...«
In der Herberge hat Denise zwei lange Tische gedeckt und im Kamin ein loderndes Feuer angezündet. Einige Pilger meckern, weil die Ersten beim Duschen schon das warme Wasser verbraucht haben. Denise informiert ihre Gäste, dass sie ihre Handys hier nicht aufladen können, weil es keinen Strom gibt, lediglich eine kleine Solaranlage für die drei Glühbirnen im Waschraum und um ein bisschen warmes Wasser zu bereiten.
Alle fallen über Denises berühmten Rindfleischeintopf her, über den Knoblauchsalat, die hausgemachte Pastete mit den duftenden Gewürzen, den Käse, der nach Sommerblumen in den Bergen schmeckt, und den sagenhaften Waldfrüchtekuchen mit dem knusprigen Teig und den vollmundigen Himbeeren — Köstlichkeiten, nach denen man sich nach einer langen Wanderung sehnt. Gute Herbergsväter und -mütter wissen, wie wichtig das Abendessen ist, das Pilgermenü. Denn mittags fallen die Rationen aus Angst vor Körper- und Gepäckgewicht eher gering aus, also stärkt man sich
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