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Pilgern auf Französisch

Pilgern auf Französisch

Titel: Pilgern auf Französisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coline Serreau
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Krankenhauszimmer geht Édith ans Telefon und führt den Hörer langsam ans Ohr.
    »Ach, du bist’s... Nein, ich bin nicht mehr im Koma, ich darf morgen nach Hause, Robert holt mich ab... Ja, ich grüße die Krankenschwestern, die du kennst... Nein, du musst nicht extra kommen, es geht mir ausgezeichnet... Ja, ich trinke nicht mehr, ich verspreche es dir.«
    Pierre spricht mit jener vorsichtigen Freundlichkeit, mit der er auch auf die Kühe eingeredet hat.
    »Geh nicht, bitte bleib!«
    Édith schweigt am anderen Ende der Leitung.
    »Bleib!«
    »Aber ich will nach Hause.«
    »Ich habe nur dich.«
    »Das ist lange her.«
    Pierre hält die Luft an.
    »Es ist viel zu lange her.«
    »Soll ich dich morgen wieder anrufen?«
    Édith legt auf, ihr Blick irrt zu der Straßenlaterne hinüber, die die menschenleere Straße in Neuilly beleuchtet.
    Pierre kehrt zur Herberge zurück. Ein Dutzend Kühe sind durch das Tor, das er offen gelassen hat, in den Hof gekommen. Der Rest der Herde hält sich ganz in der Nähe auf.
    Pierre setzt sich auf eine Bank und versucht, seine Füße zu säubern, die Kühe glotzen ihn wiederkäuend an. Ein kapitaler Stier, ein Muskelpaket mit Hörnern, stellt sich vor ihn hin. Pierre erstarrt. Doch in der stillen Nacht vergeht seine Angst und die des Stiers auch. Freundlich beäugen sie sich. Pierre lauscht der Musik ihres Atems, des lang gezogenen oder kurzen Muhens, Schnaubens, Kauens, Furzens, der platschenden Fladen und der tosenden Wasserfälle, die unter den Schwänzen der Tiere hervorschießen und den Enzian wässern.
    Er weiß nicht mehr, wer er ist; in diesem Moment, im Mondschein und inmitten einer Rinderherde weiß er nur, dass er glücklich ist und dass er Édith liebt.

DIE GRUPPE WANDERT einen steilen Pfad hinauf, einen dieser langen Trampelpfade der Herdenwanderungen, die diesen Planeten wie ein Messer geradewegs von Norden nach Süden durchschneiden, ohne auf die Beschaffenheit der Erdoberfläche Rücksicht zu nehmen. Diese Wege führen schnurgerade, ohne Windungen, in die Berge und setzen sich einfach über Hindernisse hinweg wie früher die wilden, hungrigen Tierherden, die diese Pfade geschaffen haben, lange bevor es Menschen und Haustiere gab. Treibt man Schafe im Frühjahr über einen solchen Pfad, werden sie wieder zu Wildtieren, sie geraten völlig außer Kontrolle. In heller Aufregung rempeln sie sich gegenseitig an, um auf den Berg zu gelangen, um schneller und höher hinaufzukommen, getrieben allein vom Geruch dieses Pfads, der ihnen die Richtung weist, als würden sie die Spuren der unzähligen Tiere wittern, die ihnen vorausgegangen sind, und getrieben vom Duft des saftigen Grases, das sie oben erwartet. Im Herbst überkommt die Tiere die gleiche Raserei, dann steigen sie wieder in die Täler ab. Und wenn man sie nicht aufhält, sind sie in zwei Tagen in Montpellier, sagen die Schäfer.
    Am Rand des Pfads stehen in regelmäßigen Abständen jahrhundertealte, hohe Wegmarken aus Granit, die den Wanderer leiten, wenn Schnee liegt.
    Pierre hängt mal wieder am Telefon.
    »Hallo, Robert? Für die Bilanz des Geschäftsjahrs müssen Sie... Ja, sie ist aus dem Koma erwacht, Sie können sie abholen... Das Netz ist hier so schlecht, Robert... Was reden Sie denn noch? Ich sage doch, dass ich Sie kaum verstehe... Ich höre Sie nur ganz schlecht... Ja, wir müssen die Bilanz machen...«
    Auf der Suche nach einer besseren Verbindung verlässt Pierre den Weg — eine lächerliche kleine Gestalt, die mitten in der Weite einer Hochebene Bilanz zieht.
    Claude trägt einen Stock über der Schulter, an dem seine Unterhose zum Trocknen hängt. Er geht neben Mathilde, die heute ein lilafarbenes Kopftuch trägt. Sie hat ein bisschen Farbe bekommen und ist schon besser bei Kräften, ihr rosiger Teint strahlt, sie marschiert ohne Mühe.
    Die beiden unterhalten sich angeregt, sie erleben gerade den schönsten Moment einer Liebesgeschichte — wenn man noch gar nicht weiß, dass man verliebt ist, wenn man sich noch etwas zu erzählen hat und dem anderen noch zuhört.
    Claude ist aus seiner Ichbezogenheit ausgebrochen, er fragt: »Haben Sie Kinder?«
    »Einen Jungen und ein Mädchen, sechzehn und siebzehn.«
    »Ein schwieriges Alter.«
    »Ja... Und Sie, kommen Sie gut mit Ihrer Tochter zurecht?«
    Claude hat das Treffen mit seiner Tochter vergessen, die seinen doppelten Whisky bezahlen und sich das Geld dafür vom Mund absparen musste.
    »O ja, wir verstehen uns prächtig. Wir lieben uns innig.«
    Von

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