Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
unerschöpflichen Klassikarchiv hervorgezaubert hatte. Erst als der Sprecher der Hörerschar mitteilte, dass es sich bei dem ausgewählten Beitrag um Beethovens 4. Klavierkonzert handelte, konnte er befriedigt feststellen, dass er mit seiner spontanen Vermutung musikgeschichtlich gar nicht so falsch gelegen hatte.
Von seinem Bett aus startete er per Knopfdruck einen Elektromotor, der sofort damit begann, den grauen Kunststoffrollladen mit dezenten Brummgeräuschen gleichmäßig in die Höhe zu ziehen. Nachdem der kleine Motor seine schwere Arbeit erfolgreich verrichtet hatte, öffnete er das Fenster, sog mehrmals tief die frische, trockene Sommerluft ein und ging ins Bad.
Kurz blickte er prüfend in den Spiegel, dann klappte er sein Rasiermesser auseinander und begab sich zu dem an einem Ringhaken befestigten Streichriemen. Mit mehreren eingeübten Handbewegungen ließ er die glänzende Messerklinge über den strammgezogenen naturbraunen Lederstreifen gleiten und prüfte anschließend mit Hilfe eines ausgezupften Kopfhaares dessen Schärfe. Das frisch abgezogene, extrem scharfe Messer zerteilte erwartungsgemäß das senkrecht herabhängende Haar genau in der Mitte.
Zufrieden legte er das blitzende Stahlmesser auf die geflieste Ablage unterhalb des Spiegels und fing an, ein Stück Rasierseife mit Hilfe eines angefeuchteten Naturhaarpinsels so lange zu bearbeiten, bis der wie ein Sahneberg aufquellende Schaum genau die richtige Konsistenz hatte. Dann verteilte er die, einen herb-würzigen Geruch verbreitende, weiße Masse gleichmäßig über die schwarzen Bartstoppeln. Aus lauter Übermut drückte er sich sogar einen kleinen Schaumklacks auf die Nasenspitze. Anschließend ergriff er wieder das frisch geschärfte Rasiermesser, setzte die aufblitzende Schneidekante direkt an die Schläfe neben seinem linken Ohr und zog die Klinge mit kurzen, routinierten Schabbewegungen die großzügig eingeseifte Wange hinunter.
Irgendwann einmal war er dieser Zeit raubenden morgendlichen Prozedur überdrüssig geworden und hatte sich an einem elektrischen Trockenrasierer versucht. Zwar benötigte er durch den Einsatz der kleinen Rasiermaschine in der Frühe bedeutend weniger Zeit. Aber wegen seines sehr kräftigen Bartwuchses musste er sich dafür abends erneut rasieren, wollte er nicht mit einem Stoppelbart zu einem Abendtermin erscheinen. Zudem rebellierte seine empfindliche Haut mit einer Vielzahl von kleinen Eiterpusteln auf die unerwünschten Veränderungen, so dass er sich ziemlich schnell wieder radikal von diesem wenig erfreulichen Exkurs in die Welt der modernen Bartrasur verabschiedete.
Darüber hinaus hatte ihm in dieser Zeit etwas Entscheidendes gefehlt: Der Zwang, sich bereits am frühen Morgen hundertprozentig konzentrieren und disziplinieren zu müssen. Die Elektrorasur ging derart gefahrlos über die Bühne, dass er an diesen wenigen Testtagen dabei fast einschlief, so langweilig empfand er das Prozedere. Bei der klassischen Nassrasur mit einem extrem scharfen Rasiermesser war dies dagegen völlig anders, denn bereits eine kleine Unkonzentriertheit zeitigte gravierende, für alle sichtbare Konsequenzen.
Einige Minuten später hatte er sich von seinem regelmäßig im Sommer benutzten Kellerdomizil nach oben in das Erdgeschoss des alten Hauses begeben, um das Frühstück zuzubereiten. Besondere Sorgfalt legte er dabei wie immer auf die genaue zeitliche Abstimmung der einzelnen Schritte, die minutiös hintereinandergeschaltet waren. Umso zufriedener war er dann, wenn er seine mit streichzarter Butter grundierte Roggenbrotscheibe mit zähflüssigem gelblichem Lindenblütenhonig betropfen und diesen anschließend gleichmäßig bis zum Rand verteilen konnte. Es waren stets zwei Kaffeelöffel der süßklebrigen Masse, die er aus dem großen Honigglas entnahm; genauso wie es immer exakt drei gehäufte Löffelchen Kaba waren, die er in seine große französische Kaffeetasse gab, bevor er heiße Vollmilch darüber goss und das Pulver so lange mit der Flüssigkeit verrührte, bis nur noch einheitlich hellbraune heiße Schokolade ihm fröhlich entgegenlächelte. Dann folgte das ritualisierte Eintauchen der Brotspitze in den zart duftenden, cremigen Kakao und der genüssliche Biss in die leicht aufgeweichte Roggenbrotscheibe.
Als er in seine karierten Filzpantoffeln schlupfte, musste er an einen Spruch denken, den sein schon früh verstorbener Vater manchmal zu ihm gesagt hatte: ›Mein Junge, auch wenn du meinst, es sei ein
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