Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
gesungen.«
Tannenberg mochte die Verniedlichungsform seines Vornamen noch nie leiden, aber in diesem Augenblick verursachte ihr Gebrauch ihm zum ersten Mal einen Stich in der Magengrube. Trotzdem versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. »Erinnerst du dich an das Lied von diesem kleinen Holländer, der …«
»Von Heintje?«, fiel ihm Margot Tannenberg ins Wort.
»Ja, genau der.«
»Welches Lied meinst du: ›Du sollst nicht weinen‹ oder ›Mama‹?«
»›Mama‹, mein ich.«
Obwohl es inzwischen bereits nach Mitternacht war, begann seine Mutter plötzlich damit, laut die verstaubte Schnulze anzusingen:
»Mama, du sollst nicht um deinen Jungen weinen,
Mama, einst wird das Schicksal uns wieder vereinen.
Ich werd es nie vergessen,
Was ich an dir hab besessen.
Dass es auf Erden nur Eine gibt,
Die mich so heiß hat geliebt.«
»Schluss Mutter, es reicht! Denk mal dran, wie spät es schon ist«, mahnte Tannenberg.
Aber seine bereits nach der zweiten Zeile gestarteten Interventionsversuche trugen erst nach dem Ende der ganzen Strophe Früchte.
»Das ist so ein schönes Lied«, seufzte sie ergriffen mit dicken Tränen in den Augen. »Ich weiß noch, wie du und dein Bruder mir die Schallplatte zum Geburtstag gekauft habt.«
»Von wegen gekauft!«, polterte Vater Tannenberg dazwischen. »Ich hab die gekauft und auch eingepackt.«
Aber Margot Tannenberg war so tief in ihrer mütterlichen Erinnerungswelt versunken, dass sie die abschätzigen Bemerkungen ihres Mannes überhaupt nicht registrierte. »Das war eine so schöne Zeit, Wolfi, so eine schöne Zeit.«
Dem SOKO-Leiter lief sofort ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
»Schön … schön … schön war die Zeit. Dort wo die Blumen blühen, dort wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause«, intonierte nun auch noch Jacob Tannenberg einen alten Herz-Schmerz-Song, den der Kriminalist spontan Vicco Torriani zuordnete, obwohl er sich garantiert nicht als Schlagerexperte bezeichnet hätte.
»Vater, bitte! Die Nachbarn rufen gleich die Polizei!«
»Lieber Herr Sohn, die Polizei hat doch für so was keine Zeit mehr. Die jagt doch den Schlitzer!«
»Mutter, hast du die Platte noch?«, fragte Tannenberg, die Bemerkungen seines betagten Vaters gänzlich ignorierend.
»Was, Wolfi?«
»Ob du diese Platte von Heintje noch irgendwo hast?«, wiederholte er, nur mühsam die erneut aufschäumende Wut über die peinliche Verunglimpfung seines Vornamens unterdrückend.
»Ja, bestimmt, das Haus verliert ja nichts!«
Diesen Lieblingsspruch seiner Mutter hatte er im Laufe der vielen gemeinsam unter diesem Dach verbrachten Lebensjahre immer dann gehört, wenn irgendjemand aus der Familie irgendetwas gesucht hatte, vermisste, dringend benötigte. Allerdings war diese Aussage, die ihr schon so oft floskelhaft über die Lippen gekommen war, nicht unbedingt eine Garantie dafür, dass sich der gesuchte Gegenstand auch wirklich noch in einem der beiden Häuser befand, schließlich hatte er gemeinsam mit seinem Bruder in manch einer Nacht- und Nebelaktion schon einiges an altem Gerümpel entsorgt. Tannenberg meinte sich sogar daran zu erinnern, dass sie irgendwann einmal die alten Schellackplatten der Eltern mitsamt einem defekten Musikschrank zum Wertstoffhof gefahren hatten.
»Mutter, hast du irgendeine Ahnung, wo diese Platte sein könnte?«
»Da ihr mir meine alten Platten, ohne mich zu fragen, auf den Müll geschmissen habt, stehen deine Chancen ziemlich schlecht …«
»Aber …, aber die waren doch sowieso total verkratzt!«, fiel ihr Heiner stammelnd ins Wort.
Margot Tannenberg hatte mit ihrer unerwarteten Äußerung demonstrativ bewiesen, dass sie entgegen der Meinung ihrer Söhne nach wie vor alles unter Kontrolle hatte. Aber da sie ihre Söhne abgöttisch liebte, verzichtete sie auf eine weitere Auskostung ihres Triumphes. »Eure alte Mutter sorgt schon dafür, dass, solange sie lebt, die wichtigsten Dinge das Haus nicht verlassen. Und solche Erinnerungsstücke sind eben wichtig. Jedenfalls für mich.«
»Heißt das, du hast die Platte noch?«
»Natürlich hab ich die noch, Wolfi. Ich hol sie dir«, antwortete Margot Tannenberg und machte sich auf den Weg in ihre Parterrewohnung.
»Was willst du denn mit dem Ding?«, wollte Heiner neugierig wissen.
»Wahrscheinlich wird dein Bruder auf seine alten Tage noch sentimental«, sagte Schwägerin Betty, wie meist mit untergründiger Aggressivität in ihrer herrischen Stimme.
»Besser sentimental als
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