Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
unsensibel, liebe Elsbeth!«, giftete Tannenberg zurück.
Der Kriminalbeamte parkte weiter seine Kollegin am großen Gartentisch und folgte seiner Mutter ins Haus. Als er das Wohnzimmer betrat, empfing sie ihn bereits mit der Schallplatte, die sie gerade in einer der unteren Schubladen der Furniereichen-Schrankwand gefunden hatte.
Tannenberg nahm die Single mit dem fröhlich lachenden Jungenkopf auf dem Cover in die Hand, drehte sie kurz um und zog die kleine schwarze Scheibe mit dem eingedrückten Plastikkreuz in der Mitte aus der schon ziemlich verschlissenen Papierhülle. Dann begab er sich eine Etage höher in seine Wohnung und legte die Single auf den Drehteller seines alten Plattenspielers.
Da er vergessen hatte, die Geschwindigkeitseinstellung zu verändern, setzte der Tonarm nicht auf der sich gemächlich drehenden Scheibe seine Nadel ab, sondern auf dem grauen Gummibezug des Plattentellers. Also bewegte er den Tonarm zurück in seine Ausgangsposition und veränderte den Drehzahlregler. Anschließend setzte er den Kopfhörer auf und schloss die Augen. ›Mama‹ dröhnte es aus den kleinen Lautsprechern direkt an seine Ohrmuscheln. Als die Single abgelaufen war, startete er den Plattenspieler erneut und gab an seinem Verstärker noch etwas Lautstärke zu.
Nachdem er den Schlager mehrmals hintereinander angehört hatte, wurde er einfach das Gefühl nicht los, dass irgendetwas auch ihn persönlich mit dieser Schnulze verband. Natürlich war da die Sache mit seiner Mutter und dem Geburtstagsgeschenk – aber es musste noch eine andere Querverbindung geben. Er spürte ganz deutlich, dass irgendwo in seinem Gedächtnis eine Verknüpfung existierte, die er schleunigst ausgraben musste. Gedankenversunken nahm er den Kopfhörer ab und schaltete die Stereoanlage aus.
Selbstverständlich wäre es naheliegend gewesen, die erfahrene Psychologin, die sich unten im Garten angeregt mit seiner Schwägerin unterhielt, um Hilfe zu bitten, schließlich hatte sie ja gerade vor ein paar Stunden ihre Fachkompetenz im Bereich der Gedächtnisaktivierung bewiesen. Aber er wollte es alleine schaffen, zumal er sich beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte, welchen entscheidenden Tipp sie ihm wohl geben konnte.
Ich hab ja schon selbst alle psychologischen Register gezogen, als ich mein wehrloses Gehirn mit dieser Schmalzmusik zugedröhnt hab, sagte er sich. Aber vielleicht war genau das der Fehler gewesen! Vielleicht bin ich zu verkrampft vorgegangen. Dann beginne ich eben noch einmal von vorne, diesmal aber lockerer. Also: In welchem Zusammenhang hab ich von diesem Lied gehört? Das war bei dem Anruf von Müller-Clausen, als er gesagt hat, dass die Frauen an dem Kneipentisch irgendein Lied von einem holländischen Jungen gesungen hätten.
Und ich, ja ich, der Kriminalhauptkommissar Wolfram Tannenberg, hat das Rätsel entschlüsselt!
Ich hab sogar noch die Melodie im Kopf gehabt, anscheinend so zum Abruf bereit gespeichert, dass ich sie dem Pilzexperten direkt vorsingen konnte, und zwar so, dass der sie auch sofort erkannte. Eine wahre musikalische Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass ich während meiner Schulzeit in Musik nie über ein ›ausreichend‹ hinausgekommen bin!
Aber warum singen drei Frauen dieses Lied einem ihnen völlig unbekannten Mann vor, der dann wutentbrannt aufsteht und sie als ›verdammte Schlampen‹ tituliert, bevor er zornig die Wirtschaft verlässt? – Weil sie ihn ärgern wollten!, beantwortete sich Tannenberg selbst die Frage. Gut!
Denkpause.
Nächste Frage: Warum wollten sie ihn ärgern?
Denkpause.
Einfache Antworten: Weil sie betrunken waren und jemanden suchten, den sie hochnehmen konnten. Weil er sie provoziert hat usw.
Aber warum reagierte der Mann so extrem auf dieses Lied?
Weil er schlecht drauf war! Oder weil dieses Lied und/oder die Situation, in der es gesungen wurde, ihn emotional stark berührte! Hatte nicht Müller-Clausen oder Frau Krämer behauptet, dass dem Mann Tränen in den Augen standen?
Bingo! Lars Mattissen!
Tannenberg stürzte an das geöffnete Wohnzimmerfenster und schrie laut in den Hof: »Eva, komm schnell hoch!« Als er bemerkte, dass sich die meisten Mitglieder seiner Familie ebenfalls anschickten, sich von ihren Stühlen zu erheben, ergänzte er schnell: »Und ihr bleibt alle unten!«
»Was ist denn los? Warum schreist du denn so hysterisch?«, fragte sie ihren an der Wohnungstür aufgeregt wartenden Kollegen.
»Setz dich mal hin!«, sagte Tannenberg
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