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Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall

Titel: Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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jahrelang überhaupt nicht, auch diejenigen nicht, die immer noch hier in der Stadt wohnten. Und dann liefen einem am selben Tag gleich drei davon über den Weg.
    Warum gibt es eigentlich keinen Tag der Klassenkameraden?, fragte er sich. Ganz selbstverständlich gibt es einen Frauentag, einen Tag der Briefmarke, einen Valentinstag, einen Tag der Linkshänder, einen Welt-Aids-Tag usw. – nur keinen Tag, an dem man der alten Klassenkameraden, der engen Weggefährten aus der gemeinsamen Jugendzeit, gedenkt. Man könnte sich treffen oder zumindest anrufen, alte Fotos und neue Adressen austauschen oder dergleichen.
    Tannenberg bemerkte jetzt erst die drei jungen Musiker, die sich mit ihren klassischen Gitarren und allem, was sonst noch für solch einen Auftritt in der Fußgängerzone nötig war, direkt ihm gegenüber an der Kirchenmauer aufgebaut hatten. Sie spielten genau die Musik, die Tannenberg zum Entspannen jetzt brauchte.
    Sein Blick schwebte ziellos über die ihm unbekannten Menschen zu einem langen dünnen Fahnenmast, an dem an einem langen Stahlseil ein Relikt aus der ›Fishing for Fantasie‹-Aktion hing, die letztes Jahr über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt hatte. Das Drahtseil war in dem weit aufgerissenen Maul des Fisches direkt über seinem großen, toten Glotzauge verankert, so dass es aussah, als hinge dieses überdimensionierte Tier tatsächlich an einer Angel.
    Als Tannenberg im letzten Sommer zum ersten Mal von diesem Projekt gehört hatte, war er zunächst sehr skeptisch gewesen. Nachdem er dann aber nach und nach immer mehr dieser fantasievoll bemalten und kunstvoll gestalteten Fische an allen möglichen Stellen der Stadt gesehen hatte, revidierte er radikal seine ursprüngliche Meinung. An diesem hier aufgehängten Fisch jedoch störte ihn die mehr als seltsame Farbkomposition: Ockergelber Körper, blau-metallic gespritzte Schwanzflosse, wenige in hellem Weiß hervorgehobene Schuppen, und dann noch diese in leuchtend rosa gehaltene und damit farbästhetisch völlig deplatzierte Rückenflosse.
    Warum hatte man eigentlich zugelassen, dass der Stiftskirche, die schließlich seit jeher eines der markantesten Wahrzeichen der Stadt ist, durch direkte Anbauten an ihren mittelalterlichen Korpus so enorm viel von ihrer Ausstrahlungskraft geraubt wurde? Das distanzlos an das Längsschiff angeklebte historische Gebäude, in dem sich die Adler-Apotheke befand, war mit seinen von blauen Klappläden umrahmten, milchiggelben Butzenfenstern und den kleinen, schiefergedeckten Dachgauben sicherlich eine optische Bereicherung der ansonsten doch recht tristen Innenstadtarchitektur. Nur, warum um Himmels willen hatte man es damals bei seiner Errichtung wie ein billiges Reihenhaus direkt an die Kirchenmauern geklatscht, warum ihm nicht wenigstens fünf Meter Freiraum zum Atmen gegönnt?
    Obwohl ihm das alte Gebäude trotz allem vom optischen Gesamteindruck her sehr gut gefiel, gab es etwas, was ihn extrem störte. Es war dieses mausgraue Stahlblech-Garagentor, das sich direkt an das Sandsteingemäuer der Kirche anschloss.
    Er befahl seinen Augen, die kritische Erkundungsreise fortzusetzen.
    Sein Blick schwenkte an der nördlichen Kirchenfassade vorbei nach links und weigerte sich entschieden, für einen längeren Augenblick dort zu verharren, wo er von Tannenberg hingeschickt wurde. Wenn er diese Ausgeburt städteplanerischer Barbarei nicht selbst sehen würde, er könnte es nicht glauben: Da hatte doch wirklich irgendjemand vor Jahrzehnten die grandiose Idee gehabt, diesen klassisch-gotischen Prachtbau auf direktem Wege mit einem etwa zehn Meter davon entfernt gelegenen kirchlichen Verwaltungsgebäude zu verbinden. Und zwar mit einer auf Betonständern gebauten eingeschossigen Passage, wie man sie sonst nur als Zweckbauten in Industriekomplexen zu Gesicht bekam. Dieser Stahlbetonkoloss, der von der Seite her wie ein Tod bringender Pfeil in den mächtigen Sandsteinkorpus der mittelalterlichen Kirche eindrang, war aber noch nicht einmal das Schlimmste. Viel deprimierender war die völlig lieblose Gestaltung dieser unerträglichen Verschandelung: Primitiver Flachdachbau, eine mit roten und weißen Klinkersteinen einfallslos verkleidete Glasfassade, die breite, vergilbte Heizkörpergerippe zur Schau stellte. Und alles vielleicht nur deshalb gebaut, um dem Dekan oder anderen Pfarramtsmitarbeitern auf ihrem Weg in die Kirche nasse Füße zu ersparen.
    Damit die keine nassen Füße bekommen – einfach

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