Pilzsaison: Tannenbergs erster Fall
wird die Bastille gestürmt‹, hatte Heiner mit Tränen der Begeisterung in den Augen zu ihm gesagt – und sie hatten sich an diesem Tag beide wirklich als Sozialrevolutionäre gefühlt, als engagierte Kämpfer gegen die Auswüchse demokratiefeindlicher polizeistaatlicher Willkür.
›Gegen Polizeiterror und Bespitzelung‹ hieß der Slogan, den sie nicht nur auf ihr Transparent geschrieben hatten, sondern auch die ganze Zeit über vor dem Präsidium skandierten. Die Tatsache, dass der Verfassungsschutz sie an diesem historischen Tag alle fotografiert hatte, amüsierte ihn heute. Damals, als er sich bei der Polizei beworben hatte und die obligatorische Regelanfrage beim Verfassungsschutz lief, hatte ihm diese Jugendsünde allerdings einige schlaflose Nächte bereitet. Bis heute wusste er nicht, ob man ihn damals nicht identifizieren konnte oder ob man ihn nur als armen, ungefährlichen Mitläufer, der er ja schließlich auch war, deklariert hatte.
Inzwischen hatte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission den Wochenmarkt erreicht.
»Da steht doch wirklich der Wolfram Tannenberg. Dass man dich auch mal wieder sieht«, sagte plötzlich eine dunkle Männerstimme, während der Angesprochene gerade die horrende Rechnung für den angeblich strikt ökologisch angebauten Salat beglich, ohne den seine Schwägerin seit vielen Jahren nicht mehr leben konnte.
»Ach, der Kai Bohnhorst«, entgegnete der Kriminalbeamte, nachdem er sich umgedreht hatte. »Du lässt dich ja auch nirgends mehr blicken.«
»Keine Zeit: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und: Familie, Familie, Familie«, sagte der braun gebrannte, leger gekleidete Mann und streichelte dem kleinen Jungen an seiner Seite zärtlich über die Haare.
»Du, eben hab ich gerade den Lars Mattissen getroffen. Was hältst du von einem Klassentreffen?«
»Super Idee! Das könnte man wirklich mal organisieren. Schließlich haben wir nächstes Jahr 25-jähriges Abi-Jubiläum. Wie die Zeit vergeht!«
»Da hast du allerdings recht«, stimmte Tannenberg zu und musterte seinen alten Schulfreund, der glücklicherweise schon eine Halbglatze hatte und anscheinend noch einige Pfunde mehr als er durch die Gegend schleppte.
»Sag mal, du bist doch an dieser schrecklichen Sache mit dem Serienmörder dran«, sagte der Mann merklich leiser und schob Tannenberg in eine schmale Lücke zwischen dem Marktstand des Biobauern und dem Verkaufswagen eines italienischen Delikatessenhändlers. »Hoffentlich habt ihr diesen Verbrecher bald. Meine Frau traut sich schon nicht mehr aus dem Haus. Ich muss jetzt immer einkaufen gehen, sogar auf den Markt schickt sie mich. Und um die Kids soll ich mich nun auch noch mehr kümmern. Gestern musste ich sie sogar in den Kindergarten bringen und sie später auch wieder abholen. Ich kann doch wegen dieser perversen Sau nicht meine Praxis schließen.«
»Du kannst mir wirklich glauben, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um diesen Kerl so schnell wie möglich zu fassen«, versuchte Tannenberg zu beruhigen.
»Und wieso gehst du dann seelenruhig auf dem Markt spazieren, während der Drecksack vielleicht schon die nächste Frau massakriert?«, fragte Bohnhorst und ließ den Leiter der SOKO ›Pilze‹ einfach stehen.
Obwohl Tannenberg zuerst etwas geschockt und auch ärgerlich über das unerwartete, brüske Verhalten seines alten Schulkameraden war, musste er sich doch eingestehen, dass die Frage gar nicht so abwegig war, wie er zunächst gedacht hatte. Aber war es denn schon so weit gekommen, dass er der Öffentlichkeit über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegen und sich eine schriftliche Erlaubnis für private Einkäufe ausstellen lassen musste?
Als er gedankenversunken über den Marktplatz schlenderte, gewann er den Eindruck, dass an diesem Morgen die Menschen sich irgendwie anders verhielten als gewöhnlich, viel misstrauischer, aggressiver, ängstlicher. Es fiel ihm auch auf, dass weniger Frauen als sonst hier anzutreffen waren. Und die, die er sah, befanden sich fast alle in Begleitung von Männern, nur ganz wenige hatten sich ohne Bodyguard hierher getraut.
Zielstrebig steuerte Tannenberg seinen Lieblingsmarktstand an, den er vor allem wegen der dort arbeitenden hübschen Zwillingsschwestern allen anderen vorzog. Aber auch die beiden schienen an diesem Morgen ihre fröhliche Unbefangenheit verloren zu haben.
Wie immer übergab er einer der jungen Frauen die Einkaufsliste und wartete geduldig, bis seine Bestellungen fertig
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