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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Kopf. »Wieso haben sie das nicht behandelt!«
    Er drehte sich zu dem Jungen mit der Flasche um, nahm sie ihm aus der Hand und begoß die Wunde großzügig mit Wodka. Vor Viktors Augen tanzten Funken, der Schmerz wogte von der Schläfe irgendwohin ins Kopfinnere, und Viktor wand sich, ächzte und stöhnte.
    »Bist du kein Mann oder was?« schrie der Tschetschene ihn an. »Sitz da und halt es aus!«
    Der Tschetschene betrachtete noch mal die Wunde, wandte sich an den daneben stehenden Jungen und wies mit dem Blick auf den Verband am Boden. Der Junge band ihn wieder um Viktors Kopf und kehrte zu seinem Partner zurück, der am Fenster saß und immer noch die Pistole in den Händen drehte.
    »Hör zu«, sagte der Tschetschene, als er den trüben Blick des Gefangenen auffing. »Warum hast du Streit mit den Föderalen angefangen? Kennst du nicht das schöne russische Wort: ›Der Kunde hat immer recht‹?«
    »Sie waren betrunken… und haben einen Lebenden verbrannt«, preßte Viktor leise heraus.
    »Hast du einen Lebenden gesehen?«
    Viktor schüttelte den Kopf.
    »Und warst du nicht betrunken?«
    Viktor schüttelte wieder den Kopf.
    [307] »Hast du etwa nicht den Geburtstag von deinem kleinen Freund gefeiert?« Auf dem Gesicht des Tschetschenen erschien ein angespanntes, dünnlippiges Lächeln.
    Viktor zuckte die Achseln.
    »Der hat nachgedacht«, bemerkte der Tschetschene. »Wenn du auch denken könntest, wärst du nicht hier!… Und jetzt sag mir bitte: Wieso hast du überall nach mir gefragt?«
    Auf einmal begriff Viktor, daß vor ihm Chatschajew höchstpersönlich saß. Er versuchte sich zu konzentrieren, die Gedanken zu sammeln, aber die Wunde schmerzte mit neuer Kraft, und die Gedanken ließen sich einfach nicht in eine aussprechbare und verständliche Form bringen.
    »Haben dich etwa unsere Freunde vom Geheimdienst geschickt, um mit mir abzurechnen?«
    Viktor schüttelte den Kopf. Gesten gelangen ihm leichter als Worte.
    »Weißt du, wir wollen lieber offen reden. Ich habe überhaupt keine Lust, dich schreien zu hören… Verstehst du, ich bin ein gebildeter Mensch, nach meinem Lebensstil Moskauer, und auch ich habe Kinder. Zwing mich nicht, mit dir unmenschlich vorzugehen, damit sie danach in eurem Fernsehen wieder über tschetschenische Greueltaten heulen. Woher kennst du meinen Namen?«
    Viktor wurde klar, wenn er jetzt nicht redete, würde er später gar nicht mehr dazu in der Lage sein.
    »Sie haben aus Moskau einen Pinguin mitgenommen… Er heißt Mischa…«
    »Ich habe aus Moskau auch eine Frau und Kinder mitgenommen, genau das weiß auch der Geheimdienst. Nur [308] sind Frau und Kinder jetzt nicht hier, aber darüber wirst du schon niemandem mehr berichten können…«
    Viktor begriff, daß Chatschajew nicht die Absicht hatte, ihm zu glauben.
    »Ich bin aus Kiew, ich habe Sie in Moskau gesucht, um… verstehen Sie, das ist mein Pinguin, er ist erst bei diesem Bankier gelandet und dann bei Ihnen.«
    »Und jetzt bist auch du bei mir gelandet.« Der Tschetschene lachte finster. »Wie kommt es, daß ihr alle bei mir landet? Ich bin kein Kämpfer, ich habe euch doch nicht gestört. Ich habe mich auch in Moskau nur friedlich um mein Geschäft gekümmert. Überhaupt bin ich ein gewöhnlicher Lehrer für Physik und Geschichte, verstehst du? Man hat mich mit eurer großen Literatur erzogen! Mit Stolz auf Rußland! ›Das Lied vom Falken‹, ›Das Lied vom Sturmvogel‹! Und jetzt, was habt ihr jetzt?«
    »Ich bin aus Kiew«, flüsterte Viktor und schluckte. Im Mund hatte er immer noch den unangenehm beißenden Geschmack dieses selbstgebrannten Wodkas. »Ich bin nicht aus Rußland…«
    »Ukrainer?« In Chatschajews Augen blitzte für kurze Zeit Interesse auf. »Und ihr, was habt ihr? Wo ist euer Stolz? Habt ihr euer eigenes ›Lied vom Falken‹? Hm?«
    » Warum bin ich kein Falke, warum flieg ich nicht fort «, flüsterte Viktor die Worte des ukrainischen Volksliedes, die ihm in den Sinn kamen.
    Chatschajew seufzte schwer. »Weißt du, einige Völker, und auch wir Tschetschenen, haben einen angeborenen Stolz. In den Genen, im Blut. Andere Völker brauchen, um stolz zu sein, Ideologien und Tyrannen. Ich sage dir, [309] man muß ihnen die Ideologien und Tyrannen nur gegen die Demokratie eintauschen – und alles ist aus! Solche Völker werden wieder zu Sklaven, Sklaven ihrer eigenen Ohnmacht. Aber angeborener Nationalstolz ist stärker als jedes politische System. Und ihr Russen führt nur deshalb gegen uns

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