Pinguine frieren nicht
immer gern gesagt. Und jetzt sah Sergej Pawlowitsch, Beinahe-Abgeordneter des ukrainischen Parlaments, Viktor mit Ilja Moissejewitschs weisem Lehrerblick an und nickte kaum merklich.
Etwas Kaltes, Stechendes traf Viktors Wangen, und er zitterte. Er schlug die Augen auf und sah Schnee in die Grube herabfallen. Ihm wurde noch kälter, innerlich, in Gedanken und äußerlich. Er war vollkommen umgeben und durchdrungen von Kälte. Nur irgendwo an der rechten Schläfe spürte er eine leichte Hitze, und von dort lief auch langsam eine flüssige Wärme hinunter – die verbundene Wunde blutete.
Viktor machte die Augen wieder zu. In Gedanken beneidete er jetzt Sewa, dem es in ihrer Krematoriumsbaracke gar nicht kalt sein konnte. Er wünschte sich dorthin, zurück zu der heißen Röhre und dem Schwefelgestank. Er dachte an Sewas Pläne, an die Bäckerei und an seine Vorliebe für Ofenwärme. Jetzt wurden Sewas Pläne und Wünsche noch viel verständlicher und erklärlicher. Alles, was Sewa wollte, paßte in ein einziges umfassendes Wort: leben. Leben, trinken, essen… das waren wichtige Wörter, kurz und klar. Dann gab es da auch noch die [304] zweitwichtigsten – Liebe, Wärme, Geld, Glück. Die unwichtigsten Wörter waren gleichzeitig die längsten: Viktor lächelte über die hübschen Wörter, die ihm durch sein müdes Hirn blitzten – Humanismus, Demokratie, Nächstenliebe…
Bis das von einer heiseren Stimme wütend gezischte, umfassende und knappe Wort ›Idiot!‹ diese langen und dem realen Leben so fernen Wörter mit einem Schlag aus seinen Gedanken verscheuchte. Wieder wurde es das letzte Wort, und es verstummte langsam irgendwo in der Nähe, zusammen mit Viktors verstummtem, erschöpftem Bewußtsein.
55
Am Morgen zogen zwei Tschetschenen den halberfrorenen Viktor aus der Grube und brachten ihn in den Hof eines zweistöckigen Hauses. Dort setzten sie ihn auf die kalte Erde und verschwanden für einige Minuten. Viktor zitterte vor Kälte. Er versuchte sich umzusehen, aber der Hals ließ sich nicht drehen. Direkt vor ihm stand ein grüner Jeep, an dessen Spiegel auf der Fahrerseite zwei Kalaschnikows baumelten. Irgendwo hinter ihm war ein ruhiges Gespräch in unverständlichem Tschetschenisch in Gang. Auf einmal meldete sich ein Walkie-talkie, und das Gespräch verstummte. Eine der Stimmen redete jetzt über Walkie-talkie. Das Gespräch war kurz, danach wurde es für etwa fünf Minuten ganz still.
Bald darauf hoben die beiden jungen Tschetschenen Viktor wieder unter den Achseln an und schleppten ihn ins [305] Haus. Sie setzten ihn in einem kargen Raum auf eine Bank und nahmen selbst auf der anderen Bank am kleinen Fenster Platz. Jetzt mußte Viktor den Kopf nicht mehr drehen, um die beiden zu betrachten. Sie waren vielleicht sechzehn, saßen ruhig da und warteten. Einer starrte vor sich hin auf die Holzdielen, der andere spielte mit einer TT -Pistole.
Die Tür ging auf, und auf der Schwelle erschien ein etwa vierzigjähriger Tschetschene mit dichten kurzen Stoppeln auf den Wangen. Er musterte Viktor, dann sagte er etwas auf tschetschenisch zu den Jungen. Einer der Jungen ging hinaus und kam mit einer Flasche wieder, trat zu Viktor und hielt ihm die Flasche an den Mund. Er hob die Flasche an, und Viktors Lippen brannten von der Berührung mit selbstgebranntem russischem oder kaukasischem Wodka.
»Trink, trink!« sagte der ältere Tschetschene in akzentfreiem Russisch. »Du bist fast ganz erfroren, was?«
Viktor schluckte. Sein Bewußtsein klärte sich, aber der ganze Körper war schwach und wie gelähmt. Und die Wunde an der Schläfe begann zu kribbeln und zu jucken, als hätte dieser Schluck Wodka sie ebenfalls aufgeweckt. Das Kribbeln wurde immer stärker und wurde in kürzester Zeit zu einem heftigen, aufdringlichen Kopfweh. Viktor verzog das Gesicht.
»Was ist los?« wunderte sich der Tschetschene, der sich aus der entgegengesetzten Ecke einen Hocker geholt und ihn einen Meter vor Viktor hingestellt hatte. »Schmeckt der Wodka nicht?«
Viktor schüttelte den Kopf. Er hätte sich gern an die Wunde gefaßt, aber die tauben Hände waren immer noch gefesselt. Selbst die Schultern fühlten sich taub an.
[306] »Die Schläfe«, brachte er heraus.
Der Tschetschene trat zu ihm und nahm den Verband ab. In den Händen hielt er nun einen blutverschmierten weißen Stoffstreifen, nicht länger als einen Meter. Er ließ ihn auf den Boden fallen und beugte sich über Viktor.
»Eieiei!« Er wiegte bedenklich den
Weitere Kostenlose Bücher