Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow

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Krieg, weil wir angeborenen Stolz haben und ihr nicht!«
    »Die Ukrainer führen nicht Krieg gegen euch!«
    »Gegen wen dann?«
    »Gegen niemanden.«
    »Das ist schlecht.« Chatschajew wiegte den Kopf. »Das heißt, sie führen Krieg gegen sich selbst… Also gut, erzähl!«
    »Ich habe die Wahrheit gesagt, im Zimmer bei der Baracke sind meine Pässe…«
    »Viele?« fragte der Tschetschene amüsiert.
    »Zwei. Ein echter ukrainischer und ein falscher polnischer.«
    »Rate mal, wie viele Pässe ich habe!« Chatschajew lachte. »Mit dem Paß beweist du mir gar nichts! Ich bin selbst dem Paß nach Russe, aus Rjazan!«
    Plötzlich hörten sie von irgendwo aus der Ferne Maschinengewehrsalven, und Chatschajew fuhr auf, rief den auf der Bank am Fenster sitzenden Jungen etwas zu und rannte aus dem Zimmer.
    Der Junge mit der Pistole richtete plötzlich den Lauf seiner TT auf Viktor und zielte auf seinen Kopf.
    Der Schmerz in Viktors Schläfe zog sich zurück, als hätte er sich vor der Pistole erschreckt, er verschwand, und Viktor spürte überhaupt nichts mehr. In ihm wurde alles [310] taub und starr in Erwartung des Schusses. Nur im Mund spürte er immer noch den Wodkageschmack, jetzt noch widerlicher und deutlicher. Viktor schloß die Augen. Ein Schuß krachte. In seinen Ohren dröhnte es, und dieses Dröhnen blieb und wurde unendlich. Viktor konnte nicht begreifen, ob er lebte oder nicht. Nur das fortgesetzte Dröhnen in den Ohren war eine Verbindung zum Leben. Eine Weile saß er so da, bis in der Nähe Chatschajew etwas auf tschetschenisch schrie. Viktor schlug die Augen auf und sah, daß Chatschajew dem Jungen die Pistole weggenommen hatte und sie untersuchte. Langsam drehte er sich um und sah etwa zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt das Loch im Putz, das die Kugel geschlagen hatte.
    Chatschajew wurde von dem Walkie-talkie in seiner geballten Faust unterbrochen. Eine heisere Stimme schrie etwas dort heraus. Chatschajew hob das Walkie-talkie an den Mund und antwortete zornig. Dann rief er den Jungen etwas zu und verschwand wieder.
    Die Jungen packten Viktor, brachten ihn ins Freie und stießen ihn in die schon bekannte, mit der zerfetzten und schmutzigen Uniform ausgelegte Grube hinunter.
    Viktor landete glücklich auf dem Po. Nur den Kopf stieß er sich an der Lehmwand der Grube. Von oben waren immer noch Maschinengewehrsalven zu hören, nur klangen sie jetzt schwächer.
    [311] 56
    Ohne die MKS -Winteruniform wäre Viktor in der Grube ein für allemal in einen eisigen, nie mehr endenden Schlaf verfallen. Aber die Kleidung für ›Katastrophen und extreme Situationen‹ eignete sich auch für diese extreme Situation unübertrefflich. Und nachts, als Asas Rufen ihn weckte, erwachte Viktor gleich. Er spürte den vom Schlaf gedämpften Schmerz in den hinterm Rücken gefesselten Handgelenken, spürte Hitze im Kopf und den Druck in der mehr festgezurrten als verbundenen Wunde an der Schläfe. Von oben fiel der starke Schein einer Taschenlampe direkt auf Viktor. In diesem Schein rieselten leichte Schneeflocken in die Grube herab, als würde das Licht ihnen den Weg zeigen. Und Viktor sah, wie die Flocken direkt auf seine Nase fielen und im selben Moment tauten. Nur spürte er diesen Moment der Berührung im Gesicht nicht. Die Hitze verhinderte es, ihm war heiß. Und Viktor begriff auf einmal, daß nicht die MKS -Uniform ihn so übermäßig, bis zum Schwitzen wärmte, sondern daß er selbst von innen glühte.
    Plötzlich war jemand neben ihm, drehte ihn auf die Seite und band ihm die Hände los. Dann richtete man ihn auf und ließ ihn die ersten Sprossen einer in die Grube herabgelassenen hölzernen Leiter hochsteigen. Dort wurde er schon unter den Armen gepackt und hochgezogen, und wieder hörte er Asas Stimme: »Man muß ihn waschen, und bringt heißen Tee!«
    »Wir waschen ihn dort!« antwortete jemand auf russisch.
    [312] ›Wo ist dort ?‹ zuckte Viktor ein erschreckender Gedanke durch den Kopf.
    Die Taschenlampe beleuchtete ihnen jetzt den Weg, und in der Dunkelheit unsichtbare Männer hatten Viktor untergefaßt. Neben sich hörte er Asas ungleichmäßigen, hastigen Atem – wie hatte er bloß gelernt, Asa an seinem Atem zu erkennen? Vielleicht war das hier doch ein Fiebertraum, Phantasie, Halluzination?
    Aber seine Beine kamen zu sich, und Viktor lehnte sich immer weniger auf die Arme der Unbekannten, die rechts und links von ihm gingen. Es gelang ihm schon selbst, ein Bein vors andere zu setzen, er spürte seine