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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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der ein winziger Rest geblieben war.
    Sewa nahm die Flasche ungern. Er trank den Wodka aus, sah sich nach den in der Baracke verschwundenen Söldnern um und wollte wieder hinter ihnen her.
    »Halt!« schrie der Anführer. »Was willst du denn! Gleich kommen die Jungs zurück, und dann trinken wir noch! Es geht mir doch um dich, du siehst diese Leiche besser nicht!«
    »Und die Bezahlung?« fragte Sewa.
    »Alter! Bezahlt wird, wenn man das Verkohlte holt. Aber diese Kohlen hier brauchen wir nicht! Wir holen sie nicht. Wir lassen sie dir! Wenn du magst, kannst du sie weiterverkaufen!« Und der Söldner lachte.
    Das Gespräch erfüllte Viktor plötzlich mit Abscheu und Zweifeln. Er schauderte und sah zu der Tür hinüber, die die Söldner hinter sich geschlossen hatten.
    ›Und wenn da ein Lebender drin ist?‹ durchfuhr es ihn, und er rannte los zur Baracke und hörte den Söldner hinter sich fluchen.
    [301] Er hastete in die Baracke, an der kleinen Röhre entlang zum ›Abschiedsventil‹ und weiter.
    Noch ehe er es sah, hörte er, wie die Söldner die äußere Luke zuschlugen. Er packte den heißen Hebel, zog ihn zu sich heran und bemerkte im gleichen Moment seitlich eine Bewegung. Etwas Mattes blitzte auf, und eine volle Wodkaflasche ging auf Viktors Kopf nieder. Als er in der Finsternis versank, hörte er noch das Glas bersten und spürte, wie Wodka über sein Gesicht rann. Daß der Wodka rot war, vermischt mit seinem Blut, erfuhr er nicht mehr. Während er in einen bodenlosen Brunnen fiel, hörte er nur noch das letzte Wort des Söldners, der ihn geschlagen hatte: »Idiot!«
    54
    Von einem heftigen Schmerz im Fuß kam Viktor zu sich. Er öffnete die Augen. Er wollte sich an die rechte Schläfe fassen, die mit einer straffen Binde umwickelt war. Aber die Hände waren ihm hinter dem Rücken gefesselt, so fest, daß er selbst die Finger kaum spürte. Viktor wand sich, drehte den Kopf und erkannte, daß er in einer tiefen Grube lag. Es war egal, ob sie ihn hier gefesselt hinuntergeworfen oder sanft herabgelassen hatten, aber den Fuß hatte er sich eindeutig verstaucht. Viktor zog die Knie an und befreite beide Füße aus ihrer unbequemen Lage. Er sah zum Himmel hoch, der dort oben jenseits der gelben Lehmwände dieser Grube, drei Meter über ihm, begann. Er unterdrückte den stechenden Schmerz im Fuß, rutschte [302] zur Wand und lehnte sich dagegen. Er sah, daß der Boden der Grube mit Lumpen ausgelegt war. In den Lumpen erkannte er eine Uniform der russischen Armee, untersuchte sogar den getrockneten Blutfleck auf einem der Lumpen und das Loch in der Mitte dieses Flecks. Er erinnerte sich an die letzten Minuten, bevor man ihn mit dem Flaschenhieb über den Kopf ausgeschaltet hatte. Und in seinem Gedächtnis tauchte jenes letzte Wort auf, das ihm der Söldner in seinen endlosen Fall hinterhergeworfen hatte. ›Idiot!‹
    Und wieder durchfuhr ihn kaltes Grauen. Grauen beim Gedanken daran, daß diese Söldner in der Röhre jemand bei lebendigem Leib verbrannt hatten.
    Viktor sah wieder nach oben. Er befand sich jetzt etwa drei Meter unter der Normalhöhe. Wenn dieses Leben auf Normalhöhe auch ganz und gar nicht normal war, es hatte lediglich mit einem gewöhnlichen Leben gemein, daß es sich an der Erdoberfläche abspielte. Auch wenn ein gewöhnlicher Mensch sich ab und zu für ein paar Stunden von der Erdoberfläche entfernt, sich in den Himmel erhebt – oder in Grabestiefe hinabsteigt. Viktor saß nun sogar tiefer, als man gewöhnlich die Toten plaziert. Und er war in diesem Moment den Toten auch näher als den Lebenden. Diese Erkenntnis, begleitet von einer inneren Kälte und einer äußeren, die von den rauhen Wänden der Grube kam, ließ Viktor in Gedanken von seinem Leben Abschied nehmen. Er schloß die Augen und dachte an Sonja, an Mischa-Pinguin, und sah plötzlich ganz deutlich das Gesicht von Mischa-Nichtpinguin vor sich, was ihn selbst erstaunte. Die Abschiedsrührung wählte sich selbst die Menschen, denen Viktor dankbar war. In der Erinnerung [303] tauchte Sweta auf, dann, etwas länger, Marina Zoj, ganz in Smaragdgrün. Sie wurde abgelöst von Sergej Fischbein-Stepanenko, und schon kurz vor Schluß der inneren Abschiedsvorstellung erschien Sergej Pawlowitsch, und er erinnerte irgendwie an Viktors ersten Lehrer, Ilja Moissejewitsch, der ihn später in den höheren Klassen in alter Geschichte unterrichtet hatte. Die Geschichte des Altertums bestand aus Kriegen und Morden. Ilja Moissejewitsch hatte das

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