Pinguine frieren nicht
Suchmeldung wieder zusammen, schob sie in die Jacke, vergaß sie augenblicklich und machte sich wieder ans Warten. Er wartete jetzt auf Mischa-Pinguin. Er betrachtete die hölzernen Deckplanken und merkte nicht, wie sowohl Sewa als auch Sergej sich allmählich in Luft auflösten und ihn auf dem Boot in völliger Einsamkeit zurückließen.
»Wo soll die Asche hin?« fragte jemand, der aus den warmen Ozeanwellen aufgetaucht war.
Viktor zuckte die Achseln. Da packte eine Hand ihn an der rechten Schulter und rüttelte ihn. Viktor verlor das Gleichgewicht und kippte über Bord. Er schlug auf etwas Hartes auf und wunderte sich, denn das Wasser sollte doch weich sein.
»Schlag ihn!« sagte eine andere Stimme.
Viktor schlug die Augen auf. Vor ihm standen zwei Tschetschenen. Einer hielt den Besen, mit dem sie die Asche aus dem Ofen holten.
»Wohin mit der Asche?« erklang die Stimme wieder.
»Die Beutel hinter der Blechtonne!« Viktor wies hin.
[316] »Beutel?« Die Tschetschenen tauschten Blicke. »Wozu Beutel? Kann man es nicht im Eimer rausbringen?«
Viktor sah auf den Eimer, der unter der geöffneten Luke stand.
»Wer holt denn die Asche ab?« fragte er.
»Wir sollen sie unter einen Baum streuen«, sagte einer.
»Na gut.« Viktor zuckte die Achseln und versuchte zu begreifen, was Tschetschenen wohl veranlaßte, die Asche anderer Tschetschenen unter einen Baum zu streuen.
Alles klärte sich später, morgens, als alle fünf Leichen eingeäschert, die Kerzen in der Baracke gelöscht und die beiden Tschetschenen ohne Abschied gegangen waren. Die letzten drei Eimer mit Asche, Staub und verkohlten Knochenresten trug Viktor selbst nach draußen. Er schüttete sie zwanzig Meter von der Baracke entfernt unter einen Baum.
Als er den letzten Eimer ausleerte, bemerkte er ein glänzendes Stück geschmolzenes Gold. Er dachte an Sewas Goldbarren und seinen ›amerikanischen Traum‹. Da tönte Motorenlärm in seine Erinnerungen an das gerade erst vergangene Gestern, und vor der Krematoriumsbaracke fuhr ein grüner Jeep vor. Am Steuer saß Chatschajew, neben ihm Asa. Auf der Rückbank saßen zwei bis an die Zähne bewaffnete junge Tschetschenen. Chatschajew befahl Viktor mit einer Kopfbewegung, einzusteigen. Viktor zwängte sich auf die Rückbank und fühlte im gleichen Moment, wie sich am Gürtel von Chatschajews Leibwächter eine Handgranate in seine Seite bohrte.
Sie fuhren lange, schlängelten sich auf einem gewundenen Waldweg allmählich bergauf und kamen in ein [317] menschenleeres Dorf. Sie hielten vor einem geöffneten eisernen Tor.
Die Leibwächter und Asa kletterten aus dem Jeep und gingen durch das Tor. Chatschajew sah sich nach Viktor um und musterte ihn düster, wie einen zum Tode Verurteilten. »Na«, sagte er. »Ich hoffe, heute beenden wir unser Gespräch. Siehst du, mir ist jetzt nicht nach deinen Märchen…«
»Was ist denn passiert?«
Chatschajew seufzte tief.
»Du hast wohl recht gehabt… Um einen ihrer Leute zu rächen, haben die Söldner die Tochter eines tschetschenischen Kämpfers aufgestöbert, sie vergewaltigt, verprügelt und…« Chatschajew seufzte wieder tief. »Und in meiner Röhre verbrannt… Dann haben Kämpfer diese Söldner geschnappt, die Wahrheit aus ihnen rausgeholt, ihnen die Köpfe abgeschnitten, sind zur Röhre gefahren und haben da drin deinen Bekannten lebendig verbrannt… Dann haben meine Jungs sie erschossen, und heute nacht hast du aus ihnen allen Asche gemacht. Die Geschichte ging also logisch zu Ende.«
»Und wenn sie nicht zu Ende ist?« fragte Viktor benommen. Er versuchte noch, diese Ereignisse in einer Reihe unterzubringen, in jenem Zeitabschnitt, dessen größten Teil er in Chatschajews Grube zugebracht hatte.
»Wenn sie nicht zu Ende ist, verbrennst du als nächster… Aber keine Angst, wir beide reden heute noch miteinander. Und wenn mir deine Geschichte nicht gefällt, dann stirbst du simpler und banaler, und verbrannt wird irgendein anderer. Vielleicht Asa…«
[318] Als Chatschajew Asa erwähnte, kam der schon um die Ecke und trat mit schuldbewußtem Ausdruck im runden Gesicht zu dem Jeep.
»Da ist einer, der gar nichts taugt, er hat Tuberkulose, und der andere ist auch schwächlich, aber sie wollen viel für ihn…«
»Wieviel?«
»Tausend.«
Chatschajew überlegte.
»Na gut, nimm ihn. Sag, Geld gibt es in einer Woche.«
Nach fünf Minuten brachten die Wächter einen rothaarigen Jungen in zerlumpter Soldatenuniform zum Auto. Er war mager, mit einem
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