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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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eigenen Schritte und stieß sich immer sicherer und fester ab. Die Hitze schien sich aus dem Kopf zu verflüchtigen, der Schweiß auf der Stirn war offenbar auch schon getrocknet. Und endlich stachen ihn die Schneeflocken mit ihren spitzen Nadeln, während sie auf seine Nase fielen. Nur die Wunde an der Schläfe tat noch weh. Mal stärker, mal schwächer. Es war, als führte sie ihr eigenes Leben.
    Dann kamen sie an. Der vertraute Flur, das vertraute Zimmer, der vertraute Geruch. Dann saß Viktor schon auf seinem Bett in seinem Zimmer, und neben ihm, auf Sewas Bett, hockte Asa. Sein Gesicht im Kerzenlicht sah bleich und erschrocken aus, aber sein Blick war besorgt, teilnahmsvoll und erregt. Er reichte Viktor den dampfenden Winnie-Pu-Emailbecher.
    »Trink!« sagte er. »Trink schnell! Es gibt viel Arbeit!«
    Viktor trank von dem heißen, süßen Tee und verbrannte sich dabei die Lippen. Er fühlte, wie sich an der Innenseite seiner Unterlippe ein feiner Streifen verbrannter Haut [313] löste. Er zog das Fetzchen mit dem Finger ab, rollte es zu einem winzigen Kügelchen zusammen und ließ es vor seine Füße fallen.
    »Komm schon, trink!« bat Asa.
    Von seinen Worten flackerte die Flamme der Kerze auf dem Nachttisch.
    »Wo ist Sewa?« fragte Viktor plötzlich.
    Asa lächelte: Viktor fragte, also kam er zu sich. Er lächelte, antwortete aber nicht.
    »Fertig getrunken?«
    Viktor nickte.
    »Willst du vielleicht Wodka?«
    Viktor schüttelte ablehnend den Kopf.
    »Dann los!«
    Draußen schneite es sacht. Die Erde war von einem unglaublichen matten Glanz überzogen. Viktor ging schon allein. Asa hatte ihm nicht mal gesagt, wohin, aber sie gingen gemeinsam, ohne Hast zum Krematorium. Um dorthin zu gehen, brauchte man nicht denken. Diese Route lebte von selbst in irgendeiner geheimen Zelle des Gehirns und bestimmte den Kurs des ›Autopiloten‹. Irgend jemand folgte ihnen, zwei Jungen oder Männer, gesichtslos und lautlos, nur weiche Schritte auf dem Schneeteppich.
    In der Krematoriumsbaracke war es kalt. Während Asa in den verschiedenen Ecken ein gutes Dutzend Kerzen anzündete, faßte Viktor sich vorsichtig an die verbundene Wunde. Er sah sich um und versuchte zu begreifen, wohin jene zwei Gestalten verschwunden waren, die ihn vermutlich untergefaßt bis zum Haus geführt hatten.
    [314] 57
    Die Welle von warmer, säuerlicher Luft, deren Geschmack auf der Zunge ihm vor gar nicht so langer Zeit so lästig gewesen war, wärmte Viktor jetzt und lullte ihn ein. Als hätte jemand ein Stück vom Äquator gekappt und hierher versetzt, um ihn unter Viktor auszubreiten, der sich auf den Boden gesetzt und den Kopf auf die angewinkelten Knie gelegt hatte. Der Äquator schaukelte immer noch unter der Nachwirkung der langen Ozeanwellen, und mit ihm schaukelte Viktor, in dem auf einmal ein süßes Gleichgewicht eintrat. Er hatte seine Welt von innen zugemacht und die Augen geschlossen. Dort drinnen trieb er schwerelos dahin, und die Wirbelsäule als Mast folgte einfach dem warmen Wellengang. Sein Körper mit all seinen Empfindungen war jetzt ein kleines Segelboot, den Elementen ausgeliefert, doch in diesem Ausgeliefertsein glücklich. Und aus dem Dämmerzustand zog es Viktor, beschwert vom Blei aus Müdigkeit, nagendem Schmerz und physischer Erschöpfung, hinab in einen leichten und etwas unruhigen Schlaf, in dem er sich mühelos spaltete in Viktor und das Boot. Er trieb dahin, ohne auf Segel oder Wind zu achten. Er als Viktor saß an Deck, in der Pose, in der er gerade schlief. Nur saß er mit offenen Augen und sah die vor ihm sitzenden Sewa und Sergej Fischbein-Stepanenko an. Sie saßen schweigend, sahen einander an und warteten auf etwas. Auf irgendwas, das Erscheinen eines Ufers oder auf die Rückkehr von Mischa-Pinguin, obwohl niemand im Traum wußte, wohin er verschwunden war und von wo er wiederkehren sollte. Wahrscheinlich sollte [315] er aus dem Ozean auftauchen. Aber nichts geschah, nur ein salzig-säuerlicher Geschmack setzte sich auf Viktors Zunge fest. Plötzlich kam Viktor zu sich, sah interessiert an sich herunter und überprüfte die verschiedenen Taschen seiner Katastrophenschutzuniform. Aus der inneren Brusttasche zog er ein vierfach gefaltetes Blatt Papier und erblickte die Pinguin-Vermißtenmeldung mit der Kinderzeichnung und dem versprochenen Finderlohn. Sewa und Sergej saßen ganz ruhig dabei und beachteten den erwachten Viktor und seine Aktivitäten in den Taschen gar nicht. Viktor faltete die kindliche

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