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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Diese Regel galt auch hier. Nur würde er in dieser Nacht nicht zum Schlafen kommen. Er sollte diesen Russen zu Chatschajews Vater bringen, aber nicht zum Haus, sondern ihn für eine halbe Stunde in den Hundezwinger lassen und ihn danach zu Asa fahren – das schien wohl merkwürdig zu sein, doch steckte gewiß ein Sinn dahinter. Ein Sinn, den nur Chatschajew kannte. Vielleicht war es eine Bestrafung, vielleicht würden die [328] Hunde den Mann anfallen und ihm die Kehle durchbeißen. In diesem Fall bräuchte er auch nicht mehr zu Asa zu fahren, da bot sich dann die Möglichkeit, drei oder auch vier Stündchen zu schlafen. Chatschajews Wächter stellte sich den Zwinger und die starken, mit Hammelfleisch großgezogenen deutschen Schäferhunde vor, wie sie den Körper des Mannes in der Katastrophenschutzuniform hin und her schleiften. Das gelang ihm mühelos und ganz überzeugend, und er überlegte: Was sollte er hinterher mit dem Körper tun? Chatschajews Vater war ein ehrwürdiger und starrsinniger Mann, wie alle tschetschenischen Alten. Er würde sicher befehlen, die Leiche wegzuschaffen. Der Wächter mochte die Leiche ungern in seinem Jeep befördern. Erstens, weil man danach den Wagen vom Blut säubern mußte, und zweitens war ein toter Passagier ein schlechtes Omen. Für die Toten benutzte man die Ladefläche eines Lastwagens oder einen Karren. Der Wächter seufzte und dachte weiter über die Toten nach. Über die toten Föderalen, die die geheimen Massengräber in den tschetschenischen Wäldern füllten. Er überlegte, daß man diese ganzen Leichen aus der tschetschenischen Erde entfernen müßte. Mochten die Föderalen sie sogar selbst ausgraben, identifizieren und nach Hause schicken, die tschetschenische Erde brauchte keine fremden Leichen. Sonst kam noch irgendein General aus dem Kreml auf die Idee, auf die Massengräber der russischen Soldaten Denkmäler zu setzen, und das bedeutete, die Erde für sich, für die Russen zu markieren. Wenn sie diese Denkmäler errichteten, dann gab es kein Tschetschenien mehr. Nur Obelisken mit Ehrenwache und Schutzkompanie. Wie in Berlin, in dem [329] Park in Treptow, in dem Aslan selbst vor zehn Jahren Wache gestanden hatte. Nein, Chatschajew war ein toller Kerl, er hatte sich das Richtige ausgedacht. Man mußte sie verbrennen und zurückgeben oder die Asche einfach verstreuen. Asche sammelt man nicht mehr ein, an der Asche erkennt man keinen wieder.
    Der Wagen kletterte noch eine halbe Stunde bergauf, dann hielt er vor einem verschlossenen Tor. Es war gar nicht nötig, in den Hof zu fahren, man konnte am Zaun entlang bis zu einer Tür gehen, die direkt in den Zwinger führte. Auch wenn man der Höflichkeit halber eigentlich den Hausherrn wecken und ihm erklären müßte, wozu man diesen Russen hergebracht hatte.
    Als die Hunde Aslan witterten, spitzten sie die Ohren in seine Richtung und reckten wachsam die Schnauzen. Aber sie bellten nicht, sie waren klug wie Tschetschenen. Sie packten geräuschlos zu, und Schluß!
    Aslan öffnete die Tür im Drahtzaun und ging in die Hocke, obwohl er den Zwinger, ohne sich zu bücken, hätte betreten können. Als erster kam Dschocha, ein sehniger, leichtfüßiger Rüde. Er schnüffelte und sah dem Mann in die Augen.
    »Willst du russisches Fleisch?« fragte Aslan den Hund lächelnd. Es reizte ihn, den Schäferhund zu streicheln, aber Aslan hielt sich zurück. In diesem Leben waren er und Dschocha vom gleichen Schlag. Man gab ihnen den Befehl, schrie ›Faß!‹, und dann kam das Opfer nicht mehr davon.
    Aslan weckte Viktor und führte ihn an den Zwinger. Viktor sah im Halbschlaf und verständnislos durch den fallenden Schnee auf diesen Drahtkäfig von der Größe von [330] Chatschajews Wohnzimmer und auf die grob zusammengezimmerten Hundehütten in den Ecken. Aslan schubste Viktor hinein. Viktor tat einen Schritt, dann, schläfrig mechanisch, noch einen. Und hörte, wie hinter ihm die Tür zuging. Er drehte sich um und sah, wie Aslan die Hand mit der Armbanduhr vor die Augen hielt und die Zeit ablas. Dann holte der Fahrer eine Zigarette heraus, zündete sie an und ging Richtung Wagen davon.
    Viktor blieb im fallenden Schnee stehen. Unbeweglich, wie eine einsam wachsende Kiefer. Er hielt den Atem an, während er allmählich wach wurde. Aus den verschiedenen Ecken des Zwingers starrten ihn fünf Schäferhunde an. Genauso unbeweglich erstarrt, vielleicht auf dem Sprung, vielleicht nur abwartend. Und Viktor bekam Angst. Er stellte sich vor,

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