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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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ganze Geographie Rußlands war vertreten. Die Seiten waren sorgfältig numeriert. Viktor las gerade Seite siebenundneunzig. Ihm fiel auf, daß unter den Nummern 856 und 857 anstelle von Namen und Orten Striche gezogen waren. Viktor seufzte. Mit jeder Buchführung beginnen gleich auch die Geheimnisse. Er blätterte von hinten nach vorn. Er dachte an Sewa und kehrte zum Ende der Aufzeichnungen zurück und las die letzte Eintragung. Sewa fehlte im Buch, genauso wie die tschetschenischen Namen seiner letzten Kunden. Viktor begriff, daß er Asa zu Unrecht für pedantisch gehalten hatte.
    Der Traum mit Sewa und Sergej Fischbein-Stepanenko fiel ihm ein, und plötzlich erkannte er, was sie beide gemeinsam hatten, was die beiden vielleicht eigens in diesem Traum zusammengebracht hatte. Beide waren jetzt Asche. Beim Betrachten der letzten, nicht vollgeschriebenen Seite des Buches zitterten Viktor plötzlich die Hände. Der Grund dafür war ein unerwarteter Einfall, oder vorerst eher nur eine Frage: Und wenn man Sergej hier, in dieser [337] Röhre, eingeäschert hatte? In ihrem Brief hatten seine Kollegen geschrieben, daß sie die Wahl zwischen der Einäscherung vor Ort, in Tschetschenien, und der Überführung des Leichnams nach Kiew gehabt hatten.
    Viktor setzte sich an den Tisch und blätterte das Buch noch mal zum Anfang hin durch, immer die wechselnden Daten entlang. Von Ende April an überflog er die Namen der Eingeäscherten aufmerksamer. Zwanzig Seiten las er auf diese Art durch und dachte schon, daß es keinen Sinn hatte, Sergej weiter zu suchen. Da sprang es plötzlich aus der mit kindlich-runder Schrift gefüllten Seite: ›Fischbein-Stepanenko, angekommen 13. Februar 1997, Kiew‹.
    Viktor schlug das Buch zu und blieb am Tisch sitzen. Er saß lange so. Er saß da und dachte an Sergej und an das Neujahr, das sie gemeinsam auf der Datscha gefeiert hatten, und an das Picknick auf dem Eis des Dnjepr.
    Seltsam, daß Viktor, ohne etwas von der Existenz dieses Ortes, dieses ›privaten‹ Krematoriums zu ahnen, schon eine Beziehung zu ihm gehabt hatte, schon indirekt und direkt mit ihm verbunden war. Und die Urne, die jetzt wieder auf dem Fensterbrett in seiner Kiewer Küche stand, war dafür der schreckliche Beweis.
    61
    Ein paar Stunden später, als alle Munterkeit sich aus Viktors Körper und Gedanken verflüchtigt hatte, kehrte Asa zurück. Viktor lag auf seinem Bett, starrte an die Decke und wartete auf seine Demobilisierung.
    [338] »Nicht herumliegen!« sagte Asa zu ihm, als er durch die offene Tür hereinschaute. »Nimm diesen Rotschopf und bring ihm bei, wie es geht! Heute gibt es Arbeit. Wenn du es ihm nicht beibringst, mußt du es selbst machen.«
    Widerstrebend stand Viktor auf.
    Während er mit dem Neuen zur Kematoriumsbaracke ging, unterhielten sie sich. Der Rotschopf hieß Wasja und kam aus dem äußersten russischen Norden, aus Archangelsk.
    »Gibt es nachher was zu essen?« fragte er unterwegs.
    Mit dem knirschenden Schnee unter den Füßen klang diese Frage erstaunlich harmonisch und friedlich, wie im Kinder-Sammellager.
    »Asa wird dir alles zeigen. Du kochst dir Nudeln, und am fetten Freitag armenisches Schmorfleisch dazu…«
    »Warum ›fetter Freitag‹?«
    »Weil du am Donnerstag aufs Verbrennen Rabatt gibst«, erklärte Viktor, und im Gedächtnis hörte er wie ein fernes Echo die ähnlichen Erklärungen Sewas.
    »Und was verbrennen wir?«
    Da blieb Viktor wie angewurzelt stehen. Er begriff, daß Wasja keine Ahnung von seiner bevorstehenden Arbeit hatte. Der Wunsch, etwas zu erklären, verschwand. Viktor verstummte, winkte den Jungen weiter und schritt schweigend voraus.
    »Also, was verbrennen wir?« wiederholte der Rotschopf seine Frage, als er Viktor eingeholt hatte.
    »Ich zeige dir lieber alles vor Ort«, antwortete Viktor.
    Vor Ort ließ sich wirklich alles viel leichter erklären. Wasja stand nur kurz mit offenem Mund da, als er erfuhr, [339] was er tun würde. Danach war er irgendwie fast schon leichthin einverstanden. Besonders, als Viktor zwischendurch erwähnte: »Ein warmer Ofen ist besser als eine kalte Grube!«
    »Was, du warst auch in der Grube?« fragte Wasja.
    Viktor nickte.
    In den grünen Augen des Rotschopfs erschien Hochachtung.
    Viktor ging mit Wasja die Ventile entlang und zeigte ihm ihre Reihenfolge. Dann öffnete er die beiden Luken.
    »Müssen die Toten da mit den Füßen zuerst rein?« fragte Wasja bei einem Blick in den kalten, schwarzen Trichter der inneren

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