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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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die Wahrheit ist?«
    »Sergej Pawlowitsch«, sagte Viktor unsicher. »Wenn man ihn anrufen könnte…«
    »Anrufen?« wiederholte der Hausherr und überlegte. »Ich kann auch Clinton anrufen… Also, gib mir die Nummer!«
    Viktor fuhr in die Innentasche seiner Katastrophenschutzjacke, zog den Beutel mit den Papieren heraus, fand die Visitenkarte des Volksabgeordnetenberaters und schob sie dem Hausherrn über den Tisch.
    »Trink solange!« befahl Chatschajew, dann sprach er etwas auf tschetschenisch in sein Walkie-talkie.
    Fünf Minuten herrschte angespanntes Schweigen vor dem Hintergrund des irgendwo im Hof ratternden Generators, dann meldete sich wieder das Walkie-talkie. Chatschajew sprach und lauschte, darauf erhob er sich [322] entschlossen und bedeutete Viktor mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen.
    Auf dem breiten Balkon stand auf einem Holztisch der offene Kasten des Satellitentelefons. Von dort verlief ein Kabel nach oben, und Viktor legte den Kopf in den Nacken und erblickte am Ende des drei Meter langen hölzernen Mastes eine weiße Kugel von der Größe einer ordentlichen Chersoner Melone.
    Als er den Blick wieder senkte, hielt Chatschajew schon einen Telefonhörer in der linken Hand und drückte mit der rechten irgendwelche Knöpfe im Innern des Kastens, vielleicht um die Nummer zu wählen, vielleicht um den Apparat einzustellen.
    Dann preßte er den Hörer ans Ohr und lauschte. Plötzlich erschien Enttäuschung auf seinem Gesicht.
    »Da ist ein Anrufbeantworter«, sagte er und sah Viktor müde an.
    Viktor, der immer noch den Geschmack des Martell im Mund spürte, begann hektisch zu überlegen, als ob man ihn bei einem Betrug ertappt hätte und er sofort einen Ausweg finden müßte. ›Vielleicht Nina…?‹ dachte er und sah gleich Chatschajew an.
    »Man könnte bei mir zu Hause anrufen, bei Nina«, schlug er vor. »Ich nehme den Hörer, und dann beweist sie, daß ich ich bin… Sie weiß auch von dem Pinguin…«
    »Die Nummer!« verlangte Chatschajew ruhig.
    Viktor nannte die Nummer, und wieder preßte der Hausherr den Hörer ans linke Ohr, während die rechte Hand im offenen Kasten des Satellitentelefons verschwand.
    [323] »Hallo!« sagte Chatschajew in den Hörer. »Hallo! Ist dort Nina? Was? Und wo ist sie?… Und wer ist da? Sonja?«
    Viktor wurde mit einem Schlag nüchtern. Er sah jenseits des kleinen Vordachs den Schnee fallen und fühlte den kalten Wind, der ihm über die unrasierten Wangen strich.
    Er streckte flehend die Hand aus, und Chatschajew gab ihm den Telefonhörer.
    »Sonja!« rief er. »Hier ist Onkel Witja!«
    »Wo bist du denn? In Moskau?« fragte das vertraute helle Stimmchen.
    »Nein, ich bin weit weg. Ich habe Mischa gefunden, aber vielleicht läßt man uns nicht gehen… Das ist schwer zu erklären…«
    »Wie, sie lassen euch nicht gehen?« wunderte sich Sonja im fernen Kiew. »Ist es eine Strafe?«
    »Rede mit dem Onkel«, bat Viktor. »Vielleicht glaubt er dir… Vielleicht hört er auf dich…«
    Er gab Chatschajew den Hörer zurück.
    »Sonja?« sagte der Hausherr mit einem Seitenblick zu Viktor. »Kennst du diesen Onkel, mit dem du gerade gesprochen hast, gut?«
    »Ja, das ist Onkel Witja!« antwortete das Mädchen. »Das ist mein Papa…«
    »Papa oder Onkel?« fragte Chatschajew.
    »Papa, und Mischa-Pinguin ist bei Ihnen?«
    »Ja, aber sag mir jetzt, ist er dein Onkel oder dein Papa?«
    Aber Sonja ignorierte die Frage weiter.
    »Und lassen Sie sie gehen?«
    »Wen ›sie‹?«
    [324] »Onkel Witja und Mischa!«
    »Warte mal, zuerst…«
    »Nein, Sie müssen versprechen, daß Sie sie gehen lassen. Mischa hat ein krankes Herz, wissen Sie das nicht?«
    »Gut, ich verspreche, aber du…«
    »Nein, Sie müssen mir Ihr Wort geben, schwören Sie bei Ihrer Mutter!«
    Chatschajew schwenkte fassungslos die rechte Hand.
    »Ich gebe dir mein Wort, ich schwöre bei meiner Mutter, daß ich sie gehen lasse! Und jetzt antworte mir auf meine Frage!«
    »Er ist mein zweiter Papa, der erste ist weggegangen und verschwunden«, sagte Sonja. »Und wo ist Mischa-Pinguin? Steht er neben Ihnen?«
    »Nein«, sagte Chatschajew.
    »Und wann lassen Sie sie gehen?«
    »Bald! So, auf Wiedersehen, Sonja!«
    »Kann ich noch mit Onkel Witja reden?« bat sie.
    »Nein, dies ist ein Auslandsgespräch!« schrie Chatschajew und drückte mit der rechten Hand auf irgendeinen Knopf. Er versenkte den Hörer in dem Kasten und verharrte eine halbe Minute in dieser Pose. Dann drehte er sich zu Viktor um, und in seinen

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