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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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schallte es von überall.
    Viktors Blick fiel auf ein kleines Mädchen mit hellblonden Locken, die unter der blauen Strickmütze hervorquollen. Vorsichtig setzte er ihr Mischa auf die Knie, und der Bus fuhr los.
    79
    Nachts konnte Viktor nicht schlafen. In der Wohnung war es erstaunlich still, warm und gemütlich. Und an die Fenster klatschte der Schnee, kein Schneesturm, einfach dicke, schwere Flocken, herangetrieben vom schon müde gewordenen Wind.
    Nina schlief lautlos atmend. Sie lag am äußersten Ende des Doppelbettes, wie um Viktor ein Maximum an Raum [406] zu lassen, falls er plötzlich die Hand ausstrecken und niemanden neben sich finden wollte. Aufdringlich war sie Gott sei Dank nicht.
    Viktor löste den Blick vom Fenster, wandte sich um und betrachtete Nina. Er trat näher und stand etwa fünf Minuten neben ihr, ein einziges Wort im Kopf: ›Waise‹. Das Wort ließ ihn seit gestern nicht los, seit dem Neujahrsfest in Sergej Pawlowitschs Hof. Und es klang in seinen Gedanken absolut ernst, ohne Ironie. Als erste hatte Sonja das Wort ausgesprochen, als sie nach dem fröhlichen Essen bei McDonald’s ein Auto angehalten hatten und mit Mischa nach Hause gefahren waren.
    »Stimmt es, daß sie alle Waisen sind?« hatte Sonja im Auto gefragt. »Das hat ein Mädchen zu mir gesagt.«
    »Das stimmt«, antwortete Viktor.
    »Aber ich bin ja auch eine Waise!« fuhr Sonja fort.
    »Du auch«, nickte Viktor, »ich auch, und er auch.« Er wies mit dem Blick auf Mischa, der auf dem Sitz an der Tür stand und zum Wagenfenster hinaussah.
    Der Fahrer drehte sich bei diesen Worten um und sah Viktor erstaunt an.
    Aber dann begann Viktor Sonja wie einer Erwachsenen zu erklären, daß sie ja ihn, Onkel Witja, Tante Nina und Mischa hatte. Und daß sie deshalb alle schon keine Waisen mehr waren. Sonja hörte zu und nickte. Dann fragte sie: »Und Onkel Ljoscha, ist der eine Waise?« Viktor hatte zur Antwort mit den Schultern gezuckt.
    Er erinnerte sich daran, wie die Kinderheimleiterin Galina Michailowna ihm lange die Hand gedrückt hatte, als schon alle Kinder im Bus saßen.
    [407] »Kommen Sie uns besuchen!« hatte sie gebeten. »Ein bißchen plaudern, Tee trinken! In der Nähe fließt ein kleiner Fluß, im Frühjahr ist es wunderschön bei uns! Es gibt Biber und Fischotter. Man kann bei uns auch übernachten!«
    Viktor hatte versprochen zu kommen. Und jetzt stand er da und dachte, daß Chatschajew es an seiner Stelle nicht versprochen hätte, weil er wußte, er würde es nicht tun. Aber ihm, Viktor, war dieses Versprechen ganz leicht gefallen. Er hatte es gegeben, um Galina Michailowna eine Freude zu machen. Damit sie in derselben frohen Stimmung zu Hause in ihrem abgelegenen Winkel, in ihrem Dorf Kalinowka, ankam. Damit sie und die Kinder noch ein paar Tage von den Eindrücken zehrten.
    Und auch von Sergej Pawlowitsch dachte Viktor auf einmal nur Gutes. Er war nicht geizig oder gemein. Die Arbeit für ihn war nicht schwierig, und an dieser Arbeit war auch nichts Anrüchiges. Es war etwas anderes, als Nekrologe auf Lebende zu schreiben.
    Viktor zog den Morgenmantel an, schlich auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer und in die Küche und machte die Tür hinter sich zu. Er knipste das Licht an und kniff die Augen zusammen, bis sie sich an das elektrische Licht gewöhnt hatten.
    Er wollte die Schreibmaschine auf den Tisch stellen, aber als er sich ihre üblichen Arbeitsgeräusche vorstellte, verging ihm die Lust. Er wollte die Stille nicht zerstören. Er nahm sich ein Blatt Papier und einen Stift, setzte sich auf seinen Platz und starrte auf das weiße Blatt.
    Da öffnete sich auf einmal knarrend die Küchentür. [408] Viktor fuhr herum und erblickte Mischa-Pinguin, der regungslos auf der Schwelle stand und Viktor direkt in die Augen sah.
    »Vielleicht hast du Hunger?« fragte Viktor leise.
    Der Pinguin starrte ihn unverwandt an, ohne sich von der Stelle zu rühren, und irgendwann nahm Viktor seine Anwesenheit hin wie etwas Unabänderliches, etwas Höheres, das über ihn, Viktor, und seine Taten und Gedanken wachte.
    Und auf das Blatt schrieb er: ›Mischa‹. Er drehte sich wieder nach seinem Zögling um, dann kehrte er zu dem Papier zurück und ergänzte: ›nach Hause bringen‹. Ein paar Minuten später bewegte sich die Hand wie von selbst zu dem scheinbar fertigen Satz und setzte dahinter ein großes Fragezeichen.
    80
    Nachdem sie aufgewacht war, schaute Sonja sich als erstes aufmerksam in der Wohnung um und biß sich unzufrieden

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