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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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brannten schon die elektrischen Lichterketten. Daneben lag auf dem Schnee ein prallgefüllter roter Sack. Ein paar Schritte weiter rauchten Väterchen Frost und Snegurotschka noch eine Zigarette. Als sie die Kinder sahen, ließen sie die nicht zu Ende gerauchten Stummel fallen, drückten sie unter ihren roten Stiefeln aus und eilten zum Tannenbaum.
    »Gut gemacht!« flüsterte Sergej Pawlowitsch in Viktors Ohr. »Los, fahr mit Pascha zu dir, bring deine Kleine und den Pinguin her. Da kommt es auf einen mehr nicht an! Kein Unterschied!«
    Als Sonja von der unerwarteten Einladung erfuhr, freute sie sich sehr und war schnell angezogen. Viktor nahm den Pinguin auf den Arm, und sie eilten die Treppe hinunter.
    In Sergej Pawlowitschs Hof war das Fest in vollem Gange. Die Kinder tanzten, angeführt von Väterchen Frost, einen Reigen um den Tannenbaum. Die Musik kam aus der Stereoanlage, die man vor die Eingangstür herausgestellt hatte.
    Sergej Pawlowitsch plauderte angeregt mit Galina [403] Michailowna. Als er die Ankunft von Viktor, Sonja und dem Pinguin bemerkte, unterbrach er das Gespräch, klatschte in die Hände und winkte dem Mann an der Stereoanlage. Der stellte die Musik ab.
    »Liebe Kinder«, Sergej Pawlowitsch trat einen Schritt vor, »Applaus bitte! Wir haben einen echten Pinguin zu Gast! Er ist extra für euch gekommen!«
    Die Kinder applaudierten, der Reigen bröckelte und löste sich auf, und alle drängten sich um Mischa.
    »Nicht anfassen!« rief Sonja drohend, die neben dem Pinguin stand und bereit war, ihn jeden Moment zu beschützen.
    Sergej Pawlowitsch winkte wieder dem DJ , und die traditionelle, fröhliche Neujahrsmusik erklang von neuem.
    Viktor sah, wie neben dem Bus ein Wagen mit dem Logo des ersten nationalen Fernsehkanals hielt. Eine junge Frau und zwei Burschen mit Kamera stiegen aus. Das Weitere konnte Viktor sich schon vorstellen, und er ging ins Haus. Er stieg hinauf in jenes Dachzimmer, in dem er während des Wahlkampfs gelebt hatte, und setzte sich aufs Bett, auf dem noch die gleiche Decke lag. Andere Bewohner hatte das Zimmer offenbar nicht gehabt.
    Er dachte an das letzte Neujahr, das sie auf Sergejs Datscha gefeiert hatten. Nina gab es damals noch nicht, dafür kam der bärtige Ljoscha auf seinen Beinen zu ihnen und sah Mischa zum ersten Mal. War wirklich nur ein Jahr vergangen?
    Viktor schüttelte den Kopf.
    Von draußen drang der Chor der Kinderstimmen herein: ›Im Wald, da wuchs ein Tannenbäumchen…‹
    [404] Viktor trat an das Dachfenster. Feine Schneeflocken flogen ihn an, er betrachtete sie und dachte an Tschetschenien. Er tauchte ganz in die Erinnerungen ab. ›Ich hätte Neujahr auch dort feiern können, in der Krematoriumsbaracke‹, dachte er. ›Oder in der Aschetonne.‹
    Er seufzte und ging vom Fenster weg.
    Unten beim Tannenbaum hatte sich eine Kinderschlange gebildet – Väterchen Frost verteilte Geschenke. Im Heraustreten sah Viktor auf die Uhr. Halb zwei. Er erinnerte sich daran, daß die Kinder zu Hause kein Mittagessen bekamen, ging zu Sergej Pawlowitsch und sagte es ihm.
    »Witja!« lachte der Chef. »Du machst noch einen Engel aus mir!«
    Nach einer Pause zog er zweihundert Griwni heraus und gab sie Viktor.
    »Fahr mit ihnen zu McDonald’s und bestell ordentlich, daß sie sich richtig satt essen. Dann zahlst du und schickst den Bus wieder zurück. Klar?«
    Viktor nickte.
    »Ach ja, über die Feiertage hast du selbstverständlich frei. Komm am zweiten Januar wieder! Wenn dir langweilig ist, auch früher!«
    Die Musik verstummte, die Geschenke waren verteilt. Der Busfahrer ließ den Motor an, und die Kinder liefen zu den geöffneten Türen.
    »Vielen, vielen Dank!« sagte Galina Michailowna, die zu Viktor getreten war. »Sie stellen sich nicht vor, was das für die Kinder bedeutet! Sie waren zum ersten Mal in Kiew!«
    »Das ist noch nicht alles.« Viktor sah auf die zwei [405] Hunderterscheine in seiner geballten Faust. »Jetzt fahren wir zu McDonald’s.«
    In den Augen der Frau erschienen Tränen. Sie wollte etwas sagen, brachte aber nichts heraus.
    »Kommen Sie, kommen Sie!« drängte Viktor sie zum Bus.
    »Onkel Witja! Fahren wir auch mit?« fragte Sonja.
    Viktor hob den Pinguin hoch.
    »Ja, schnell!« rief er Sonja zu und zeigte zur vorderen Bustür.
    Als er hinter Sonja einstieg, sah er, daß es keine freien Plätze mehr gab und daß die Kinder auf einigen Zweiersitzen schon zu dritt saßen.
    »So, wer nimmt Mischa?« fragte Viktor.
    »Ich! Ich! Ich!«

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