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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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auf die Unterlippe. Kühl begrüßte sie den noch auf seinen zwei Sesseln unter der Decke liegenden Ljoscha.
    »Was ist los?« fragte Ljoscha schläfrig.
    »Weißt du, daß heute Neujahr ist?« wollte das Mädchen wissen und durchbohrte Ljoscha mit einem vorwurfsvollen Blick.
    »Nicht heute, sondern morgen.«
    »Nein, Väterchen Frost kommt heute nacht. Und wo soll er die Geschenke hinlegen?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Tannenbaum! Die Wohnung ist nicht [409] aufgeräumt! So was gehört sich nicht für anständige Menschen!«
    Ljoscha schielte erstaunt zu ihr hinüber. Im letzten Satz hörte er deutlich Ninas Tonfall, auch wenn Nina in seiner Anwesenheit so einen Satz nie gesagt hatte.
    »Sag es dem Papa«, riet er. »Es ist noch nicht zu spät, einen Baum zu kaufen.«
    »Das tu ich auch!« erklärte Sonja aufgebracht und rief sofort: »Onkel Witja! Wo bist du? Wir müssen einen Baum kaufen!«
    »Hier!« kam Viktors Stimme aus der Küche, und Sonja lief zu ihm.
    Viktor und Sonja fanden ihre Tanne vor dem nächsten Feinkostladen. Für drei Griwni wurde sie von einem abgerissenen Obdachlosen verkauft, an dessen erdfahlem Gesicht man schwer sein Alter erkennen konnte. Aber selbst er gab sich Mühe, neujahrsmäßig festlich auszusehen, und hatte über seinen leuchtendgrünen Schal ein paar silbrig glitzernde Lamettafäden gehängt.
    Die Tanne war klein, nicht höher als anderthalb Meter. Sonja wollte sie gleich tragen helfen, und so kehrten sie auch heim, die festtägliche Last geteilt. Viktor ging hinten, das untere Ende des Stammes fest in der Hand, Sonja hielt mit ihren Händchen in den Fäustlingen die Spitze.
    Sie schmückten den Baum alle gemeinsam. Darum war es eng, und Nina zerschlug in der Enge zwei Kugeln. Ljoscha in seinem Rollstuhl holte den Schmuck aus den Schuhkartons, in denen jede Kugel sorgsam in altes Zeitungspapier gewickelt lag.
    [410] Als schließlich kein Baumschmuck mehr da war, kam die Aktion ins Stocken. Und da erst merkten sie alle, daß der Tannenbaum überladen war wie ein Apfelbäumchen in einem reichen Erntejahr. Nur daß der ganze Schmuck so leichtgewichtig war, rettete ihn.
    »So einen schönen Baum hatten wir noch nie!« rief Sonja. Dann sah sie sich um. »Wo ist Mischa?«
    Viktor sah sich ebenfalls um.
    »Er war in der Küche!« sagte er.
    Das Mädchen lief in die Küche und kam nach einer Minute mit Mischa zurück. Er tippelte ohne Eile vor ihr her, während Sonja ihn von hinten mit Worten antrieb.
    »Komm, los, schneller, wir haben das für dich gemacht!« redete sie auf Mischa ein.
    Auf einmal bemerkte Viktor, daß Sonja den Pinguin jetzt um gut einen halben Kopf überragte. Er dachte daran, wie die beiden gleich groß gewesen waren. Noch vor einem Jahr. Er dachte auch daran, wie klein ihm Mischa in Tschetschenien erschienen war, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, nachts, im Hundezwinger.
    ›Nein, Sonja ist gewachsen‹, entschied Viktor.
    Der Pinguin stellte sich vor den Tannenbaum und betrachtete ihn. Dann tat er einen Schritt nach vorn und äugte unter die tiefen Zweige.
    »Da ist noch nichts!« erklärte Sonja. »Erst um Mitternacht! Onkel Witja geht und kauft etwas und gibt es dem Väterchen Frost, und der legt leise, während wir feiern, die Geschenke alle dort hin!«
    Viktor sah Sonja an und seufzte. Es war klar: Das Mädchen glaubte an die Kindermärchen noch genau zur Hälfte. [411] ›Wenn nur diese eine Hälfte ihr noch lange bleibt‹, dachte er.
    Die Zeit verflog am letzten Tag des Jahres erstaunlich schnell. Der Tag war auch kurz; als der Stundenzeiger noch nicht bis zur vier gekommen war, wurde es draußen schon dunkel, und gleich begann es im Schutz der Dunkelheit in dichten, dicken Flocken zu schneien.
    Sie machten in allen Zimmern Licht an, und Nina schaltete den Fernseher ein. Es kam ein alter sowjetischer Spielfilm aus dem Leben der Erntemaschinenfahrer. Schwarz-weiße Kolchosbäuerinnen sangen munter fröhliche Lieder. Niemand schaute ihnen zu, aber das Lied aus der Vergangenheit klang bis in die Küche, wo Nina sich um den Braten kümmerte und Ljoscha, der beschlossen hatte, ihr zu helfen, Kartoffeln schälte. Unter dem Tisch miaute die Katze in der Hoffnung, daß vom Küchentisch etwas für sie abfiel, und zwar nicht erst um Mitternacht, sondern sehr viel früher.
    Viktor hatte auf einmal nichts zu tun. Sonja war zu ihrer Nachbarsfreundin gelaufen. Im Wohnzimmer stand nur der Pinguin auf dem Stück Kamelhaardecke vor der mit Klebeband

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