Pinguine frieren nicht
anderer… Aber die anderen interessierten Viktor nicht. Er goß sich noch Kognak ein, trank ihn aus und dachte an Ljoscha. In seinem Kopf tauchte die merkwürdige Frage auf: ›Und was ist aus Ljoschas altem Mercedes geworden?‹
Hinter seinem Rücken wurde an die Scheibe geklopft. Viktor wandte sich um und sah Nina.
»Du erfrierst ja da draußen!« rief sie.
Viktor kehrte ins Wohnzimmer zurück, streifte sich den Schnee von den nassen Pantoffeln und drehte sich um. Der Pinguin stand am Balkongeländer und blickte immer noch unverwandt hinunter. Das Gebell war verstummt.
Viktor ließ Mischa in der Kälte und schloß die Tür.
[415] »Wir haben nicht genug Mayonnaise für den Kartoffelsalat«, klagte Nina, und Viktor begriff, wofür man ihn brauchte.
Froh zog er sich Stiefel und Jacke an und verließ das Haus.
Der Feinkostladen hatte noch geöffnet. Die Leute drängten sich alle in der Spirituosenabteilung.
Als er mit der Mayonnaise zurückkam, teilte Nina ihm mit, daß gerade jemand für ihn angerufen habe. Ein Mann. Er wolle in zehn Minuten noch mal anrufen.
›Das war Sergej Pawlowitsch‹, dachte Viktor. ›Er will mir sicher ein gutes neues Jahr wünschen.‹
Gegen neun kam Sonja von ihrer Freundin zurück. Für alle Fälle spähte sie unter den Tannenbaum, war aber nicht enttäuscht, als sie dort noch nichts entdeckte. Sie lief in die Küche und wollte mithelfen, aber es war schon alles fertig.
Im Fernsehen kam der beliebte ›Klub der Fröhlichen und Findigen‹. Studentenmannschaften aus Charkow und Moskau trieben Scherze über den Staatszerfall und Abrechnungen im Mafiamilieu. Viktor schaltete um und landete bei Disney-Zeichentrickfilmen. Er rief Sonja, die es sich freudig auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem machte. Viktor ›zerlegte‹ inzwischen Ljoschas Bett. Er räumte Unterlage, Decke und Kissen weg, rückte die zwei Sessel auseinander und stellte sie nebeneinander an die Wand. Dann betrachtete er den Tisch. Ausziehen oder nicht ausziehen? Platz war eigentlich genug da, für vier Menschen und einen Pinguin war es sogar sehr geräumig.
Ab zehn begannen er und Nina den Tisch zu decken, und um halb elf setzten sie sich. Sie stellten auch einen [416] Hocker für Mischa hin, aber Mischa zeigte keinen Wunsch, den Balkon zu verlassen. Viktor beschloß, ihn noch ein Weilchen in der Kälte zu lassen. Sonja gähnte, hielt sich aber eisern. Sie schenkte sich ein großes Glas Fanta ein, trank es auf einen Zug aus und schaute in die Runde. Viktor lächelte anerkennend. Sonja lächelte auch, sehr mit sich zufrieden. Aus der Küche zog Bratenduft ins Wohnzimmer herüber, und Nina ging hinaus. Bei ihrer Rückkehr verkündete sie: »Noch zwanzig Minuten!«
»Schalte mal um auf ORT , wir stoßen mit Moskau an!« bat Ljoscha, ohne den Blick von der Flasche rotem Krimsekt zu wenden.
Viktor schaltete um. Boris Jelzin wünschte gerade den ›lieben russischen Bürgern‹ stockend und langsam ein gutes neues Jahr.
»Dreh solang den Ton weg!« bat Ljoscha wieder.
Das erste Mal prosteten sie sich zeitgleich mit Moskau zu. Viktor hatte gerade noch rechtzeitig zu den letzten Schlägen der Kreml-Glocken den Ton wieder angestellt.
Und weiter ging das Fest mühelos, wie geschmiert. Zum Kiewer Neujahr holte Viktor Mischa ins Zimmer und stellte ihn auf seinen Hocker. Vor dem Pinguin stand der gleiche Teller wie vor allen. Nur hatte man ihm weder Messer noch Gabel, noch Glas gedeckt. Dafür lag auf seinem Teller ein aufgetautes, in Streifen geschnittenes Seelachsfilet. Für alle Fälle, aber hauptsächlich der Schönheit halber, hatte Nina neben den Seelachs zwei Zitronenscheiben plaziert.
Viktor wechselte noch mal den Kanal und geriet gleich in die Ansprache von Präsident Kutschma. Sofort drehte er den Ton ab und sah auf seine Uhr.
[417] »Alles fertig machen!« kommandierte er und stellte eine zweite Flasche Sekt auf den Tisch.
Sonja schlief beinahe schon. Die Willenskraft reichte nicht mehr, um die Augen offenzuhalten, aber bis zur ukrainischen Mitternacht harrte sie dennoch aus. Mühsam hob sie ihr randvolles Fantaglas, stieß mit allen zum Fernsehklang der ukrainischen Glocken an. Sie trank aus und begegnete dem Blick von Mischa-Pinguin, der ihr genau gegenüber saß. Er sah sie so durchdringend an, daß auch sie ihren Blick einige Zeit nicht von seinen schwarzen Äuglein lösen konnte.
»Warum trinkt Mischa nichts?« fragte sie plötzlich.
Viktor breitete ratlos die Arme aus. Dann stand er auf, ging
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