Pinguine frieren nicht
einfach weg, nicht mal wenn sie kratzen. Und zweitens ist Mischa bei uns nur zu Gast. Früher oder später wird er sich auf die Reise nach Hause machen, in seine Heimat.«
Sonja hörte Viktor nicht zu. Sie sah Mischa in die Augen, und er sah sie an, als ob er sich an die Vergangenheit erinnerte.
»Wir waren mit Tante Nina im Feinkostladen und haben ihm Dorschleber gekauft«, erklärte Sonja.
»Aber er frißt doch keine Konserven«, meinte Viktor und dachte gleich darauf: Vielleicht inzwischen doch?
»Wenn er nicht will, esse ich sie für ihn. Ich mag Dorschleber!« verkündete Sonja. »Kommt in die Küche, wir warten schon eine halbe Stunde auf euch!«
Der Küchentisch war festlich gedeckt, in der Mitte eine Flasche Sekt, Schüsseln voll Salat, Bratenduft in der Luft. Etwas zischte in der Pfanne auf dem Herd.
Viktor nickte Nina und Ljoscha zu, setzte sich auf seinen Platz und beobachtete, wie Mischa langsam und unsicher zum Herd ging, neben dem auf dem Hocker gewöhnlich sein Schälchen gestanden hatte.
»Sieh mal, er erinnert sich an alles!« rief Sonja fröhlich.
Ljoscha öffnete die Sektflasche und hielt den Korken nicht fest. Der schoß mit einem Knall aus der Flasche an die Decke und segelte dann hinter den Herd. Der Sekt schäumte heraus, und Ljoscha füllte ihn in die bereitstehenden Gläser.
[397] »Und ich?« rief Sonja.
»Du bist noch zu klein!« sagte Viktor.
»Nein! Ich habe schon mal getrunken! Tante Nina, sag es ihm!«
Nina sah Viktor hilflos an. Er schüttelte nur den Kopf und seufzte, hob aber doch mit einem Blick auf Sonjas Glas das seine. In Sonjas Glas war ein ganz klein wenig Champagner, kaum den Boden bedeckend.
»Auf Mischa!« sagte Viktor.
Mischa, dem man schon auf den Hocker ein Schälchen mit zerschnittenem Lachs und einigen noch gefrorenen Riesengarnelen gestellt hatte, drehte sich um und sah Viktor unverwandt an.
77
Gleich morgens, am 29. Dezember, rief Viktor Pascha an, und der erklärte ihm in verständlichen Worten, wie man an die nötigen Informationen kam. Was, wie sich herausstellte, ganz einfach war. Man rief an, präsentierte sich als Berater des Abgeordneten Soundso und erklärte, was man brauchte. So landete Viktor innerhalb von fünfzehn Minuten bei der Bezirksversorgungsstelle, wo er schon die Telefonnummern einiger Kinderheime erhielt.
Ein Waisenhausdirektor eröffnete ihm gleich im Klartext, daß das ›Abkommandieren‹ der Kinder die einladende Seite fünfhundert Dollar koste, Transport nicht eingerechnet. Viktor legte den Hörer auf, ohne sich zu verabschieden, und wählte die nächste Nummer. Diesmal [398] landete er glücklich. Die stellvertretende Heimleiterin, eine Frau mit einer hellen, schwungvollen Stimme, freute sich aufrichtig über seinen Anruf und erklärte, das werde ein echter Festtag für die Kinder. Sie gab ihm eine Wegbeschreibung und warnte, daß es auf den letzten zwanzig Kilometern über einen Feldweg ging und sie deshalb für die Kinder am besten einen alten Bus schicken sollten. Sie verabredeten Viktors Anreise für den nächsten Morgen gegen neun.
Im Hochgefühl seiner ersten erfolgreich durchgeführten Mission als Abgeordnetenberater beschloß Viktor darauf, mit Sonja und dem Pinguin draußen spazierenzugehen. Er zog sich an.
»Würdet ihr mich auch mitnehmen?« bat Ljoscha.
»Klar!« rief Sonja.
In zwei Etappen schafften sie alle die Treppe hinunter. Nina kam auch mit, sie trug Ljoschas Rollstuhl.
Auf dem großen, schneebedeckten Platz stampfte eine ältere Frau den Schmutz aus einem Teppich, den sie mit der Oberseite nach unten auf den Schnee gelegt hatte. Als sie den Pinguin erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dann wandte sie den Blick zu dem beinlosen Invaliden im warmen Trainingsanzug auf dem Rollstuhl, den eine junge Frau im langen blauen Mantel schieben half. Den anderen jungen Mann in der Tarnjacke kannte sie, der war ja in diesem Hof groß geworden. ›Und das Mädchen ist seine Tochter‹, dachte sie, während sie Sonja betrachtete.
»Wir gehen zum Taubenschlag!« rief Sonja Viktor zu.
Am Taubenschlag führte ein stämmiger Mann einen deutschen Schäferhund spazieren. Als Mischa den Hund [399] erblickte, eilte er sofort drollig watschelnd auf ihn zu. Der Schäferhund bemerkte den Pinguin und erstarrte mit gespitzten Ohren. Als der Pinguin vor ihm stehenblieb, tat der Schäferhund einen Satz zur Seite und musterte von dort weiter das unbekannte Tier.
»He, nehmen Sie den hier weg!« schrie der
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