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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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abgedichteten Balkontür, unter der es trotzdem zog. Viktor ging neben Mischa in die Hocke.
    »Na, wie geht es dir?« fragte er.
    Der Pinguin drehte sich um und sah Viktor aufmerksam an. Dann wandte er den Kopf wieder der Balkontür zu, als wollte er damit etwas sagen. Und Viktor verstand.
    »Warte, ich bewege dich mal kurz zur Seite!« Viktor packte die Ecke der Kamelhaardecke und zog sie zu sich her.
    [412] Der Pinguin erzitterte, als er sich gemeinsam mit der Unterlage vom Platz bewegte. Unterwegs sprang er ab und verfolgte die Bewegungen seines Herrchens.
    »So.« Viktor lächelte. »Jetzt können wir beide uns abkühlen! Warte nur noch kurz.«
    Er ging in die Küche, lobte Ninas und Ljoschas Wirken und holte seinen Winnie-Pu-Becher. Im Küchenschrank fand er eine kleine Flasche Koktebel-Kognak und ging leise wieder hinaus. Weder Nina noch Ljoscha sah sich nach ihm um.
    Die Balkontür öffnete sich mit dem Geräusch zerreißenden Papiers – die ringsum angeklebten Papierstreifen mit der Schaumstoffdichtung rissen ab. Sofort drängte ein kalter Windstoß und mit ihm Schneeflocken ins Zimmer. Sie fielen auf den Boden und tauten.
    »Na«, Viktor sah den Pinguin an, »komm! Vorwärts, ins Kalte!«
    Als hätte er das Kommando verstanden, lief Mischa schnell hinaus auf den Balkon. Er versank gleich im Schnee, trippelte im Kreis und schuf sich ringsum Platz. Seine Bewegungen hatten etwas Fröhliches. Er sah sich nach seinem Herrchen um, als ob er darauf wartete, daß der zu ihm kam.
    Viktor warf einen Blick auf seine Pantoffeln. Schnee war nichts für sie, das hieß, er würde auf der Stelle nasse Füße bekommen. Aber vor dem Pinguin wollte er seine Unentschlossenheit und seine albernen menschlichen Bedenken nicht zeigen, und so trat auch Viktor hinaus in den Schnee. Er stellte Flasche und Becher ab und verschloß die Balkontür mit dem Häkchen. Die kalte Luft durchfuhr ihn, [413] und er bedauerte schon, daß er nicht seine Katastrophenschutzjacke und die Hose angezogen hatte.
    Aus dem Zimmer fiel gelbes, heimeliges Licht auf den Balkonschnee heraus. Viktor hockte sich hin, goß Kognak in den Becher und tippte Mischa an die Schulter. Der drehte sich um und sah Viktor aufmerksam ins Gesicht.
    »Na?« fragte Viktor, als wartete er auf Lob für seine Entschlossenheit, mit der er die Wohnung der Kälte preisgegeben hatte. »Auf dich, auf deine Rettung, und auf deine glückliche Zukunft!«
    Der Pinguin lauschte noch aufmerksam, als Viktor verstummte und einen Schluck Kognak trank. Viktor betrachtete den Becher in dem matten gelben Licht und überlegte, daß er den richtigen Moment abpassen mußte, um die Geschenke unter den Baum zu legen.
    Plötzlich drang Hundegebell aus der von Schneegestöber und diffusem Straßenlicht erfüllten Dunkelheit herauf. Der Pinguin erschauerte, lief zum Balkongitter und blickte hinunter.
    Viktor beugte sich instinktiv vor und schaute ebenfalls. Man konnte unten nichts erkennen, aber das Gebell ging weiter. Ein merkwürdige Empfindung überkam Viktor, die Stadt ringsum war nicht mehr da, er selbst war irgendwo oben. Irgendwo in den tschetschenischen Bergen. Unwillkürlich stellte er den Becher in den Schnee, fuhr sich an die rechte Schläfe und berührte die Narbe.
    Seine Füße waren naß, aber deutliches Unbehagen spürte er nur im linken Fuß.
    Das alles, das Bellen in der Dunkelheit, der Schnee, sogar der linke Fuß, der sich bei Viktor beschwerte, das alles [414] waren auch Narben, die ihn an den Krieg erinnerten. Den Krieg, an dem er quasi gar nicht teilgenommen hatte. Der Krieg war zu ihm gekommen und hatte sich in sein Schicksal und in Mischas Schicksal eingemischt. Und jetzt waren sie zwei Veteranen, ausgeschlossen aus der Gesellschaft, die weit von diesem fernen und nahen Krieg gelebt hatte.
    Er tat sich auf einmal selber leid. Er kannte das Gefühl zwar, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal leid getan hatte. Das Selbstmitleid verwandelte sich in Mitleid mit Mischa, das vertraute Schuldgefühl meldete sich wieder. Dieses Schuldgefühl hatte ihn ja nach Moskau und dann nach Tschetschenien geführt. Ein anderer hätte vielleicht schon gemeint, daß er seine Schuld bezahlt hatte. Ein anderer hätte schon alles vergessen und sich daran gemacht, sich im Leben einzurichten, um noch möglichst alles von ihm zu bekommen, was für den gewöhnlichen Menschen vorgesehen ist: ein bißchen Glück, ein bißchen Leid, ein bißchen Liebe und viel freie Zeit. Ein

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