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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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hinaus in den Flur und trat dort versehentlich auf die Katze, die gerade Milch aus ihrem Schälchen schlabberte. Sie sprang zur Seite. In der Küche griff Viktor erst zu einem Schälchen, tauschte es dann aber gegen eine Teetasse. Die Tasse füllte er mit kaltem Leitungswasser.
    Mischa schien sich über die Möglichkeit zu trinken zu freuen. Er beugte sich sofort darüber, aber da sprang Viktor plötzlich noch mal auf. »Warte!« sagte er zu Mischa, nahm die Tasse und ging damit in die Küche.
    Als er zurückkam, sahen alle, daß in der Tasse Eiswürfel schwammen.
    »Jetzt kannst du trinken!« sagte Viktor zufrieden, während er sich auf seinen Stuhl fallen ließ.
    »Ich gehe ins Bett, in euer Zimmer!« erklärte Sonja schläfrig. Mit der linken Hand rieb sie sich die Augen, mit der rechten wies sie auf die Schlafzimmertür. »Aber ihr müßt mich wecken, wenn Väterchen Frost kommt!«
    [418] Ohne Sonja wurde es am Tisch noch geräumiger. Viktor griff zur Fernbedienung, schaltete wieder zu ORT , und sie begannen sich die Unterhaltungssendung ›Neujahrsfeuer‹ anzusehen. Sie waren inzwischen schon bei Kognak und Wodka, und Viktor hatte sein Glas gegen den Winnie-Pu-Becher eingetauscht.
    »Schenk ihn doch Sonja«, schlug Nina vor. »Er gefällt ihr so gut!«
    »Nein.« Viktor schüttelte bereits einigermaßen beschwipst den Kopf. »Das geht nicht…«
    Er schielte zu Ljoscha hinüber, um zu sehen, ob der schon betrunken war. Aber Ljoscha saß ziemlich munter in seinem Rollstuhl, den Rücken in die weiche Lehne gedrückt. Auf seinem Gesicht lag ein träumerisches Lächeln, und die zusammengekniffenen Augen schienen mal ins Innere, mal in die Vergangenheit zu blicken. In der Hand hielt er das nicht ausgetrunkene Wodkaglas. Nur der Bart mit seiner ›Zwischengröße‹ mißfiel Viktor. Ein kürzerer Bart stand Ljoscha doch besser, so ein Tolstoj-Bart würde einen alten Mann aus ihm machen. ›Man müßte ihm helfen, ihn zu stutzen‹, überlegte Viktor. Und auf einmal fiel ihm ein, wie er im Krankenhaus den sterbenden Pinguinologen Pidpalyj rasiert hatte, und er versank ganz in der Vergangenheit, in der gar nicht fernen Vergangenheit, im vorigen oder schon vorvorigen Jahr. Alle, die hier am Tisch saßen, Sonja, Ljoscha, Nina und natürlich Mischa, waren mit ihm gemeinsam in jener Vergangenheit gewesen. Und es war ihnen doch wirklich gar nicht schlechtgegangen. Man mußte sich nur für jenes Leben ›zurechtstutzen‹. Und wieso eigentlich für ›jenes‹? Für dieses , denn jenes Leben [419] ging ja weiter und hieß jetzt ›dieses Leben‹. Nichts darin hatte sich groß verändert. Jemand hatte es verlassen, jemand war gekommen. Jemand, wie Viktor, war zurückgekehrt.
    Das Telefon klingelte, und Viktor sah als erstes nach, ob die Tür zum Schlafzimmer zu war. Er hatte einen Schrekken bekommen, das Kingeln könnte Sonja wecken. Aber die Tür war zu, und da nahm Viktor den Hörer ab.
    »Na, Alter!« tönte eine irgendwie bekannte Stimme aus dem Hörer. »Auf ein gutes Neues! Ich habe versucht, dir gestern abend zu gratulieren, du warst aber nicht da! Dir und den Deinen stabiles Glück! Bald sehen wir uns.«
    »Danke«, entgegnete Viktor verlegen. »Und wer spricht da?«
    Aber der Gratulant hatte schon den Hörer aufgelegt.
    Viktor versuchte sich zu erinnern, wessen Stimme das war. Er hatte sie eindeutig schon früher gehört, und mehr als einmal. Aber im Fernsehen sang leidenschaftlich der ewige Jüngling Kirkorow. Um ihn herum tanzten sparsam bekleidete Schönheiten. Draußen vor dem Fenster heulte ein echter Schneesturm los. Nina schaufelte Ljoscha und Viktor noch Braten auf den Teller, die Gedanken zerstoben, flogen auseinander. Auf der Suche nach einem Konzentrationspunkt sah Viktor auf den Pinguin.
    Mischa stand auf seinem Hocker vor dem schon leeren Teller und hatte den Kopf der Balkontür zugewandt.
    Viktor wurde es warm. Sein Blick fiel auf den geschmückten Tannenbaum, und ihm fiel ein, was noch getan werden mußte. Er bat Nina und Ljoscha, nicht hinzuschauen, holte die Tüte mit den Geschenken aus dem Schrank und verteilte die Geschenke unter dem Baum. [420] Dann sah er durch die Balkontür hinaus – draußen ging der Schneesturm weiter. Der Wind heulte. Und auch durch die wieder frisch abgedichtete Balkontür zog es jetzt stärker herein. Viktor hielt die Hand an die Stelle, wo Rahmen und Tür aufeinandertrafen, und trotz der Papierabdichtung streifte scharfe Kälte seine Hand wie die Schneide eines eisigen

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