Pinguine frieren nicht
vereisten Fluß hinunter. Es wurde ein wenig unheimlich, das gegenüberliegende Ufer lag ganz in der Dunkelheit verborgen. Sie war nicht schwarz, sondern grau. Vielleicht war das schon der Morgennebel?
Viktor hauchte und sah zu, wie die warme Luft aus seinen Lungen herausflog und sofort zu Dampfwolken wurde. Es war kalt. Zehn Grad minus. Am Kopf, für den er die Mütze vergessen hatte, spürte er bereits die klirrende Kälte. Aber innen im Kopf waren noch die Dämpfe von Kognak und Sekt unterwegs. Der Kopf hielt es noch eine Weile aus. Besonders, da Viktor noch Kognak in der Jackentasche hatte.
Sie liefen nebeneinander über das Eis, langsam, aber schon nicht mehr ängstlich. Die Langsamkeit entsprach einfach Viktors Zustand. Und auch Mischa hatte es nicht eilig. Von Zeit zu Zeit legte er den Kopf in den Nacken und sah zu seinem Herrchen hoch. Mal blieb er einen halben Schritt zurück, mal lief er Viktor einen halben Schritt voraus. Und wenn er ihn überholte, blickte er ihm jedesmal von unten ins Gesicht.
[424] »Bald sind wir da«, sagte Viktor im Gehen. »Bald haben wir es geschafft!«
Aber das Eis war endlos, genau wie die Dunkelheit um sie herum. Viktor blieb stehen, blickte sich nach allen Seiten um und sah nichts als Eis.
›Komisch‹, überlegte er. ›Hier muß doch irgendwo der Wasserpark sein!‹
Er hockte sich hin und legte dem Pinguin die Hand auf die Schulter.
»Wir haben uns verirrt!« sagte er ruhig und eindringlich. »Macht nichts, gleich wird es hell!«
Er zog die Flasche aus der Jackentasche, nahm den Korken heraus und trank einen Schluck. Gleich durchlief eine Welle bittersüßer Wärme seinen Körper, wärmte ihn und verlangsamte seine Gedanken und Bewegungen noch mehr.
Er steckte die Flasche wieder ein und hörte, wie das Flaschenglas gegen etwas klirrte. In der Tasche erfühlte er das Handy. Er zog es heraus, drückte auf einen Knopf, und der kleine Monitor leuchtete gelb auf. Auch die Knöpfe leuchteten. Viktor drückte die Null-Sechzig. Der Zeitansagedienst verkündete mit einer mechanischen Frauenstimme: »Sechs Uhr acht Minuten.«
»Schade, sie sagen nicht, wann es hell wird!« bemerkte Viktor zu Mischa.
Er schaltete das Telefon aus und steckte es wieder in die Tasche.
Sie gingen weiter. Plötzlich tauchten aus dem kalten Halbdunkel die Umrisse eines Anglers auf, der auf einer Kiste vor einem Eisloch hockte. Viktor blieb abrupt [425] stehen und überlegte erschreckt, ob er schon Halluzinationen hatte. Er machte ein paarmal die Augen auf und zu, aber das Bild verschwand nicht. Da ging er darauf zu.
»Na, beißen sie an?« fragte er im Näherkommen von hinten.
Der Angler in der Felljacke mit dem hochgeschlagenen Kragen antwortete ihm nicht, saß nur weiter unbeweglich da.
Viktor wanderte um den Mann herum. Er ging vor ihm in die Hocke und bekam einen fürchterlichen Schreck. Der Mann war schneeweiß; seine Angel lag auf dem Eis über dem wieder zugefrorenen Loch. Neben dem Eisloch glitzerte eine leere Wodkaflasche.
»Frohes neues Jahr!« flüsterte Viktor schaudernd. Dann sah er Mischa an.
»Siehst du, des Pinguins Freude ist des Ukrainers Tod…«
Und wieder kehrte Viktors Blick zu dem erfrorenen Angler zurück. Furcht packte ihn kalt bis ins Mark, und die Knie fingen ihm an zu zittern. Der Nebel um sie herum schien dichter geworden zu sein. Mischa schmiegte sich an sein Herrchen und sah ebenfalls auf den Angler. Nur war an dem Blick seiner kleinen schwarzen Äuglein nicht zu erkennen, was er angesichts des fremden kalten Todes empfand.
Die Erstarrung hielt lange an. Ganz allmählich gewöhnte Viktor sich an die Furcht, die ihn hier auf dem Dnjepreis im Morgengrauen überfallen hatte. Er begann sogar, über sie nachzudenken, versuchte zu verstehen, wovor er sich jetzt fürchtete. Nein, nicht vor dem erfrorenen [426] Angler, genausowenig wie vor dessen Tod. Das war beinahe natürliche Auslese auf ukrainisch. Denn es gibt ja nichts Banaleres und Gewöhnlicheres als Unfälle. Das Leben selbst ist für viele schon ein Unfall, die Geburt von Kindern – auch ein Unfall. Nein, seine Furcht meinte ihn, Viktor, selbst. Und in irgendeinem Moment begriff er, daß er Angst vor der Zukunft hatte, vor dem Übergang aus einem Zeitraum in einen anderen. Nicht mal Angst vor dem Unbekannten, das ihn hinter jeder Bewegung des Stundenzeigers erwartete, sondern vor der Wiederholung der Vergangenheit.
82
Es wurde endlich hell, als er mit Mischa heimkehrte. Die verschneiten Straßen der
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