Pinguine frieren nicht
Pascha und er grüßten sich inzwischen schon mit einem Kopfnicken, wie alte Nachbarn. Viktor wußte von ihm nur, daß er die Sportuniversität absolviert hatte und Biathlonchampion und Mitglied der Jugendnationalmannschaft gewesen war, ehe er in die Dienste von Sergej Pawlowitsch getreten war. Auf die Frage »Kann ich mal telefonieren?« wies Pascha mit einer lässigen, herrschaftlichen Geste auf das Telefon, das auf einem Tischchen im Vorzimmer stand.
Viktor wählte seine Nummer. Die Freizeichen dehnten sich eine halbe Minute lang, aber dann ertönte Sonjas helles, atemloses »Hallo!«.
»Sonja?« fragte Viktor froh.
»Onkel Witja!«
»Ja, ich bin’s. Ich habe Mischa gefunden!«
»Wo ist er?«
»Er ist nach Moskau gefahren.«
»Aber wieso?« Aus dem Hörer klang trauriges Unverständnis.
»Er arbeitet dort in einem Zoo…«
»Als was denn?«
[87] »Als Pinguin.«
»Aber geht das?« fragte Sonja, und die Frage brachte Viktor zum Lächeln.
» Er kann das…«
»Aber ich kann doch nicht als Sonja arbeiten, wenn ich schon Sonja bin!« Sie gab nicht auf.
»Ich kann auch nicht als Witja arbeiten«, sagte Viktor. »Aber ein Pinguin kann im Zoo als Pinguin arbeiten, und ein Elefant als Elefant. Tieren ist es erlaubt, als sie selber zu arbeiten…«
»Ja?! Na gut«, sagte Sonja. »Ich würde ja gern als Sonja arbeiten, das ganze Leben!«
»Und was würdest du da tun?«
»Na, ich weiß nicht, ich wäre eben Sonja, von morgens bis abends.«
»Das ist sehr schwierig, man selber zu sein, Sonjetschka…«
»Ich weiß!«
Das Gespräch vertrieb die Zeit, und Viktor vergaß die Stunden und Minuten. Der fröhliche Dialog munterte ihn auf und brachte ihn zum Lachen, und als Sonja schließlich meinte, sie hätte gern ein Eis, und auf eine von Viktors Fragen erklärte, daß sie schon allein in die Stadt gehen und sogar U-Bahn fahren konnte, da verabredeten sie, sich in einer halben Stunde bei der Bushaltestelle neben seinem alten Zuhause zu treffen.
[88] 13
Gegen Mittag löste der Nebel sich auf, und über Kiew schien wieder die matte Herbstsonne. Im Wasserpark herrschte noch sommerliche Trägheit, dieser Strand auf der Insel war so etwas wie Kiews südlicher Außenrand, und hier war es immer ein paar Grad wärmer als in den anderen Gegenden der Stadt. Deshalb gab es im Wasserpark auch pro Quadratkilometer ein Vielfaches mehr an Eisverkäufern als anderswo. Und daß Sonja ihren Spaziergang durch den Park mit einem Schoko-Vanilleeis am Stiel beginnen wollte, war völlig einleuchtend.
»Du siehst älter aus!« sagte Sonja als erstes, nachdem sie ein Stück Eis abgebissen hatte.
»Du auch!« antwortete Viktor.
»Das macht nichts!« sagte Sonja vergnügt. »Tante Nina sieht jetzt auch älter aus!«
»Wie das?«
»Sie schimpft die ganze Zeit und streitet mit Onkel Kolja!«
»Ja?« wunderte sich Viktor. »Und wieso streiten sie sich?«
»Weil er manchmal nicht nach Hause kommt! Er ist aus Odessa. Immer fährt er da hin, dann verspricht er mir Muscheln mitzubringen, und immer vergißt er es…«
»Und was verspricht er Tante Nina?«
»Daß er nicht mehr hinfährt. Und dann fährt er doch.«
»Tja!« seufzte Viktor. »Also ist Tante Nina nicht glücklich mit ihm?«
»Nein«, sagte Sonja, die einen Meter vor Viktor herging [89] und ihn von der Hauptallee des Wasserparks wegführte. »Sie hat ihm schon mal den Koffer vor die Tür gestellt!«
»Ah, so! Bei euch geht es ja lustig zu!« sagte Viktor und sah sie nachdenklich an.
»Gar nicht lustig.« Sonja blieb auf einmal stehen. »Überhaupt gar nicht lustig! Tante Nina hat mir versprochen, daß ich in den Kindergarten gehe, und danach hat sie versprochen, daß sie ein Kindermädchen für mich findet!«
»Und sie hat nichts davon gemacht?«
»Nein!«
»Ich werde mal mit ihr reden!« versprach Viktor aufgebracht.
»Lieber nicht«, sagte Sonja in ganz erwachsenem Ton. »Jag sie lieber weg!«
»Wie meinst du das, wegjagen?« fragte Viktor erstaunt.
»Na, du hast sie doch geholt, damit sie mit mir spazierengeht? Sie ist aber schon lange nicht mehr mit mir spazierengegangen! Komm, wir nehmen uns ein Boot!«
Viktor sah sich um und bemerkte erst jetzt, daß sie direkt neben dem Bootsverleih standen.
Sie glitten mit dem Boot bis zur Patonbrücke. Viktor saß an den Rudern, und Sonja, die ihr Eis längst aufgegessen und die Finger sauber abgeleckt hatte, saß im Heck und erzählte ihm weiter von ihrem Alltag. Bei diesen Erzählungen stieg in Viktor ein neues
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