Pinguine frieren nicht

kamen ihm verschiedene Wahlkampfideen – der Anblick seiner eigenen Schöpfung hatte etwas Anregendes gehabt. Er erinnerte sich an verschiedene vergangene Wahlpropaganda. In seinem Gedächtnis tauchte der Kinderhilfefonds der Präsidentengattin auf. Und gleich kam ihm eine neue Idee, keine besonders originelle vielleicht, aber Wähler wünschen ja auch gar nichts Originelles. Sie mögen Wiedererkennbares. ›Wohltätigkeit‹ bleibt für sie immer so etwas wie ein Charakterzug eines Kandidaten oder Abgeordneten und keine Tätigkeit oder einzelne Aktion. Beim Wort ›Wohltätigkeit‹ denkt jeder wahrscheinlich: ›Vielleicht kriege ja auch ich was umsonst, für meine Armut oder meine Gier?‹
    ›Ich muß es ihm sagen‹, dachte Viktor, während er an einem Wurstbrot kaute. ›Die Presse kauft er selbst, aber noch irgendeine Aktion vor den Wahlen kann nur Pluspunkte bringen!‹
    Die Idee einer wohltätigen Aktion brachte Viktor auf das Café ›Afghanistan‹, wo sich die jungen Invaliden trafen, die im übrigen für Afghanistanveteranen zu jung waren. Zwar hatte Viktor dort auch nur drei von ihnen gesehen, Ljoscha mitgezählt. Und Ljoscha hatte seine Beine hier in der Heimat verloren, dazu hatte er nicht Mitglied der kämpfenden Truppe werden müssen. Aber trotzdem: junge Invaliden, das war herzergreifend, es wäre edel, etwas für sie zu tun – und das wirkte aufs Publikum!
    Der Chef kam gegen fünf zurück. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er nicht geschlafen hatte. Aber er hielt sich ohne besondere Anstrengung wach. Er gähnte nicht und hielt sich offiziersmäßig gerade. Als erstes erzählte er, daß [125] er die PR -Berater in irgendeinem Restpostendepot ›festgesetzt‹ hatte und sie auch schon das ein oder andere von sich erzählt hatten. Die Zwillinge und Schora waren, wie sich herausstellte, kleine Gauner aus Schitomir, und der Computermann Slawa ein einfacher Bursche aus Kursk. Sie hatten sich aufgemacht, um an den Wahlen etwas zu verdienen. Zwischen ihren Sachen fanden sich auch eine Pistole mit Schalldämpfer, ein bißchen Kokain und ein Handy mit eingebauter Wanze.
    »Was passiert jetzt mit ihnen?« fragte Viktor.
    »Den Computermann habe ich laufenlassen, aber diesen dreien wird es weh tun… Wir haben noch Zeit zum Überlegen. Wir beide fahren morgen hin, sie schreiben gerade einen Aufsatz über das Thema: ›Wofür ich die Heimat liebe‹.« Der Chef lachte.
    Viktor fand, daß Sergej Pawlowitsch jetzt in der richtigen Stimmung war, und erzählte ihm von seiner Idee.
    »Wie viele Invaliden sind denn da, und was kosten diese Prothesen?« fragte der Chef sehr interessiert.
    »Wenn Sie wollen, fahre ich hin und kriege es raus, und nach dem Preis der Prothesen kann sich vielleicht Pascha oder ein anderer erkundigen.«
    Der Chef nickte. Das Wort ›Wohltätigkeit‹ wirkte sich wohltuend auf ihn aus, und nachdem er Pascha gebeten hatte, ihn in zwei Stunden zu wecken, ging er sich ausruhen.
    [126] 20
    Gegen Abend fiel ein feiner Nieselregen. Am Kreschtschatik tauschte Viktor einen Hundertdollarschein ein und kaufte sich gleich im Zentralen Kaufhaus einen billigen chinesischen Regenschirm. Die fröhliche Geschäftigkeit im Kaufhaus zerstreute ihn, und auf einmal verlor er jede Lust, zu Ljoscha ins Café ›Afghanistan‹ zu fahren. Er wollte Sweta finden und wieder bei ihr in dem stillen nächtlichen Kindergarten sein. ›Wo bin ich da bloß reingeraten?‹ dachte Viktor und spürte mit jeder Faser die Sehnsucht nach den Freuden des Lebens. Aber die Realität, oder genauer, sein Realitätssinn rückte alles rasch in ihm wieder an seinen Platz, und als er aus dem Kaufhaus trat, spannte er den Schirm auf und ging Richtung Unterführung. Er hielt einen Fahrer an und betrat fünfzehn Minuten später das schon vertraute Café, zu dem anstelle von Stufen eine Rollstuhlrampe hochführte.
    Im Café war dieses Mal einiges los. Ohne zu zählen, erkannte Viktor, daß es über ein Dutzend Besucher gab. Schnell fand er Ljoscha mit dem Blick und fing auch selbst einige fragende Blicke auf, die er nicht beachtete. Er ging direkt zur Bar.
    »Hallo!« begrüßte er Ljoscha knapp. »Ich muß mit dir reden.«
    Ljoscha legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Besucher ironisch.
    »Geh ins Hinterzimmer und hol dir einen Stuhl, daß mir der Hals nicht so weh tut. Reden wir von gleich zu gleich!«
    [127] Im Hinterzimmer klappte Viktor schnell einen Rollstuhl auseinander, setzte sich hinein und rollte zu Ljoscha