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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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beliebigen Getränkes an diesem Ort eine halbe Stunde Internetbenutzung enthielt, und als Viktor das begriff, freute er sich sogar.
    Sachte löste sich das Problem, was er mit seiner vielen Zeit anfangen sollte.
    Viktor richtete sich vor Computer Nummer neun ein, verrührte den Zucker im Tee und bat dann den Dicken, ihm einfach und in verständlichen Worten zu erklären, was man wie im Internet finden konnte. Der Dicke wunderte sich über die Bitte und fragte ihn, wo er herkam. Als er hörte ›Kiew‹, lachte er. Trotzdem erklärte er ihm alles sehr verständlich, und Viktor, der noch gestern gedacht hatte, zum Geheimnis des Internet könnten nur echte [176] Computerfreaks Zugang finden, sah sich jetzt interessiert das Fenster an, in das man jedes beliebige Wort, jeden beliebigen Namen schreiben konnte, woraufhin die unsichtbare elektronische Macht einem alles herausfand, was man darüber nur finden konnte.
    Viktor schrieb das Wort ›Pinguin‹ und klickte mit der Maus. Augenblicke später verkündete der Bildschirm, daß fünfhundertzwölf Einträge gefunden wurden. Viktor begann sie durchzusehen, ohne etwas besonders Interessantes zu entdecken. Dann schrieb er ›Antarktis‹ in das Fensterchen, und der Computer fand mehr als zweihundert Einträge, die durchzusehen Viktor schon keine rechte Lust mehr hatte. Wie um den Computer auf die Probe zu stellen, schrieb er noch ›Bronikowski‹. Einträge zu diesem Namen gab es nur acht, und Viktor beschloß, sie durchzulesen. Die ersten zwei Bronikowskis hatten nichts mit dem Bankier zu tun, der eine war ein Physiker, der zweite ein Journalist aus Wladiwostok. Dafür war der dritte Bronikowski wirklich der Bankier. Der Eintrag bezog sich auf einen Artikel aus der ›Kriminalzeitung‹ über das Verschwinden des Bankiers, der im Verdacht stand, zweiunddreißig Millionen Dollar ins Ausland verschoben zu haben. Viktor erfuhr, daß Bronikowski Vorstandsvorsitzender der Bank gewesen war, daß einer seiner Stellvertreter sich erhängt und man den zweiten tot im Wald gefunden hatte, mit Spuren von Folter. Die blutigen Einzelheiten, die der Journalist der ›Kriminalzeitung‹ mit offensichtlichem Genuß ausbreitete, weckten bei Viktor mehr Widerwillen als Interesse. In den verbliebenen fünfzehn Minuten betrachtete er die Fotos halbentblößter [177] ›Moskauer Schönheiten‹, die auf dem Bildschirm erschienen waren, nachdem er ein kleines rotes Feld mit der Bezeichnung ›Freuden echter Männer‹ angeklickt hatte. Und wirklich, die ›Moskauer Schönheiten‹ lenkten ihn ab und entspannten ihn. Sie weckten auch die Erinnerung an Sweta aus dem Kindergarten. Sweta konnte man mit diesen wohlgebauten Mädchen natürlich nicht vergleichen, aber sie war echt und lebendig, und Viktor kam es vor, als erinnerten sich sogar seine Finger noch an ihre glatte und geschmeidige Haut.
    »Ihre Zeit läuft in einer Minute ab«, sprang ihm von der Kopfleiste des Bildschirms entgegen, und Viktor fand sich leicht mit seiner ›abgelaufenen Zeit‹ ab. Er stand auf und ging auf die Straße hinaus, wo inzwischen ein dünner Nieselregen fiel. Ohne auf den Regen zu achten, ging er weiter bis zum Majakowskiplatz und dort in die Unterführung hinunter. An der Wand gegenüber den U-Bahn-Eingängen erblickte er zwei Telefone. Er sah auf die Uhr und beschloß, noch einmal anzurufen.
    30
    Das Haus Nummer sechs auf dem Kutusowprospekt war leicht zu finden. Dieser Prospekt war geradezu gebaut für stark kurzsichtige topographische Idioten: Man konnte die Hausnummern einfach mit dem Finger bestimmen, ohne auf die angeschriebenen Zahlen zu schauen, und die Häuser hatten dabei solche Ausmaße, daß man sie vermutlich auch vom Weltraum aus zählen konnte.
    [178] Marina, die Frau, oder genauer: Witwe von Bronikowski, hatte Viktor mit ausgeprägtem Moskauer Akzent ausgiebig erklärt, wie er erst den Kutusowprospekt und dann ihre Wohnung fand. Sie gab ihm auch den Code für die Haustür und bereitete ihn darauf vor, daß hinter der Codetür ein Concierge sitzen und ihn sofort anhalten werde. Sie hatte alles genau beschrieben und dabei schon irgendwie allzu erfreut über seinen Anruf geklungen. Viktor versuchte sich diese Freude zu erklären und begriff auf einmal, daß er im Gespräch mit ihr am Telefon nie die Vergangenheitsform benutzt hatte. Er hatte ja nur gesagt, daß er einen Brief von ihrem Mann für sie hatte, da konnte sie nichts Böses ahnen: Briefe kamen von Lebenden, nicht von Toten. Sicher hatte

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