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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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einen Gruß von mir.«
    28
    Der Abschied vom Chef war gleichzeitig herzlich und nüchtern. Seltsamerweise empfand Viktor seinen unfreiwilligen Aufenthalt in diesem Haus mitsamt der Arbeit oder ›Aufgabe‹, die man ihm zugeteilt hatte, jetzt überhaupt nicht als Gefangenschaft, Kerker oder Sklavenarbeit. Im Gegenteil, er hatte sich die ganze Zeit über gut beschützt gefühlt, wie eine Schnecke im sicheren Haus. Und jetzt entließ man ihn in die Freiheit. Da sollte er sich wohl freuen, aber er fühlte sich müde und niedergeschlagen. Er dachte an einen der ersten Punkte aus dem Gesetz der Schnecke: Beim Übergang von einem Haus in ein anderes muß die Schnecke äußerst vorsichtig und rasch vorgehen. Jetzt verließ er ein sicheres Haus, aber kein anderes wartete auf ihn. Im Gegenteil, vor ihm lag Moskau, wo er keinen Menschen kannte, wo er völlig schutzlos sein würde. Aber dafür hatte er jetzt auch nur noch eine einzige Aufgabe: Er mußte Mischa finden und überlegen, wie er ihn in die Antarktis zurückbringen konnte. Und dann? Sich nur noch um sich selber kümmern? Oder um Sonja? Was tun? Wie Geld verdienen? Die Fragen waren schon [167] zweitrangig und beschäftigten Viktor nicht besonders. Irgendwas würde sich schon von selbst ergeben. Die Zukunft existiert, solange man sich über sie Gedanken macht und Fragen an sie hat. Mit dem Beantworten kann man warten. Das Leben antwortet am Ende selbst auf all die Fragen.
    Pascha und er nahmen Abschied unter dem Eingang zu seinem schäbigen Mietshaus. Pascha drückte Viktor fest die Hand. Er sagte: »Mach’s gut!«, nickte bedeutsam und fuhr davon.
    Als Viktor allein unter dem sternlosen Nachthimmel auf dem nassen Asphalt stand, legte er den Kopf in den Nacken und sah zu den Fenstern seiner Wohnung hoch. Dort schliefen alle, genau wie hinter allen übrigen Fenstern. Er drehte sich um und sah für alle Fälle noch hoch zu Mama Tonja im ersten Stock gegenüber. Dort war es auch dunkel. Er betrat das Treppenhaus.
    Er wollte niemanden wecken, schloß die Wohnungstür auf und zog im Flur Jacke und Schuhe aus. Dann ging er auf Strümpfen in die Küche, knipste das Licht an und legte die Tüte auf den Tisch, die seinen ganzen Reichtum enthielt – zwei Pässe, die Kreditkarte und den Brief an die Bankierswitwe. Sergej Pawlowitschs Dollars zählte er jetzt aus irgendeinem Grund nicht dazu.
    Er kochte Tee, setzte sich ans Fenster und sah auf die Urne mit Sergejs Asche, die wieder ihren rechtmäßigen Platz auf dem Fensterbrett neben dem Gasherd einnahm. Er dachte an Sergej, an ihr Picknick auf dem Eis des Dnjepr, an Mischa-Pinguin, in ein Handtuch eingewickelt, ›damit er sich nicht erkältet‹. Ihm war nach [168] Hochprozentigem zumute. Im Schrank fand er eine angebrochene Flasche Wodka, holte sich ein Glas und goß sich ein.
    Er dachte an die Nacht, als er in dieser Küche gesessen und Nina und Sonja einen Zettel geschrieben hatte, daß er wiederkomme, wenn der Staub sich gelegt habe. Vielleicht sollte er ihnen jetzt auch einen Zettel schreiben und sich direkt zum Bahnhof begeben, irgendeinen Zug besteigen und zwei Stunden später schon Moskau ansteuern?
    In der nächtlichen Stille knarrte pötzlich die Küchentür, und Viktor fuhr erschrocken zusammen. Er drehte sich um und erwartete fast, den Geist von Mischa-Pinguin zu sehen – nur Mischa hatte die Angewohnheit gehabt, so leise die Tür mit der Brust anzuschubsen und in die Küche zu kommen, wenn Viktor dasaß und an den ›Kreuzchen‹ arbeitete.
    Durch den Türspalt schaute Sonjas verschlafenes Gesichtchen herein.
    »Wieso schläfst du nicht?« fragte Viktor, noch außer Atem von dem Schreck.
    »Und du?« fragte Sonja und kam in die Küche.
    Sie hatte einen weißen Frotteeschlafanzug an, mit einem aufgestickten Pinguin. Viktor starrte auf den gestickten Pinguin und seufzte.
    »Ich bin nur kurz vorbeigekommen«, sagte er. »Ich muß verreisen.«
    »Jetzt?« wunderte sich Sonja. »Du wolltest mir doch helfen, die Anzeigen zu verteilen!«
    »Schläft Nina?« fragte Viktor.
    »Sie nimmt immer ein Schlafmittel, daß sie nicht so lange fernsieht… Ihr tun vom Fernsehen die Augen weh.«
    [169] »Was für ein Schlafmittel?«
    Sonja zeigte auf die Flasche Smirnoff, die vor Viktor auf dem Tisch stand.
    »Wodka?«
    »Ich weiß, daß das Wodka ist, aber sie nimmt es als Schlafmittel.«
    Viktor sah Sonja nachdenklich an. Er schenkte sich noch ein Glas ein, und auf einmal war es ihm unter Sonjas aufmerksamem Blick

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