Pinguine frieren nicht
ins Gesicht. Sie kniff die ohnehin schmalen Schlitzaugen zusammen, und wohin sie blickte, war nicht zu erkennen. Irgendwann bemerkte sie die Kreditkarte, streckte ihren rechten Zeigefinger aus und bohrte ihn in das Plastik.
Plötzlich fiel Viktor auf, daß Marinas gepflegte lange Nägel glänzend schwarz lackiert waren. Auch gekleidet war sie ganz in Schwarz: ein weiter schwarzer Pulli, schwarze Leggings und schwarze Pumps. Am Ringfinger ihrer linken Hand steckte ein Ring mit einem Smaragd, und nur dieser Smaragd brachte irgendwie Leben in ihr Äußeres. Viktor revidierte seinen ersten Eindruck und wunderte sich, daß er erst jetzt ihre Kleidung und die schwarzen Fingernägel beachtet hatte. ›Sie trägt Trauer?‹ überlegte er. ›Aber wieso hat sie mich dann so fröhlich begrüßt?‹
[182] »Sie werden mit mir trinken müssen«, sagte sie plötzlich fest, wie ein Mann.
Als Olja mit dem Kaffee für Viktor und einem Glas Orangensaft für Marina kam, befahl Marina ihr, die Bar zu bringen.
Olja rollte einen verchromten Barwagen herein, mit hohen Rändern und leichter ›zweiter Etage‹ voller Gläser in allen Größen und Formen. Auf dem Wagen standen etwa dreißig verschiedene Flaschen. Marina sah Viktor fragend an, und Viktor wurde es mulmig. Der Blick ihrer schwarzen schrägstehenden Augen war irgendwie gleichzeitig fragend und befehlend.
»Kognak«, sagte er.
Gleich sah Marina Olja an, und die fischte aus den Flaschenreihen geschickt einen Hennessy heraus, schenkte ein Glas ein und stellte es vor Viktor auf den Tisch. Dann füllte Olja ein ebensolches breites, niedriges Glas mit Whisky und reichte es der Herrin.
»Du kannst gehen«, sagte Marina zu ihr und wandte sich Viktor zu. »Danke für den Brief…«
Sie nippte an dem Whisky, nahm das Glas vom Mund und betrachtete aufmerksam seinen Inhalt, setzte es wieder an und leerte es langsam.
»Rauchen Sie?«
»Nein«, sagte Viktor.
»Sie werden es ertragen müssen.« Sie zog eine lange, dünne Zigarette aus einer Schachtel und zündete sie an.
Viktor trank den Kognak aus und kämpfte gegen die gespannte Atmosphäre.
»Gießen Sie sich nach«, bat Marina, als sie merkte, wie [183] er das leere Glas auf den Tisch zurückstellte. »Und mir auch. Whisky.«
Während er ihre Bitte erleichtert erfüllte, spürte er den nachdenklichen Blick der Frau auf sich.
»Und sonst hat Stas Ihnen nichts mitgegeben?«
»Nein.«
Marina schüttelte den Kopf, aber in ihren Augen tauchten Zweifel auf. Oder vielleicht schien es Viktor nur so. In den asiatischen Augen zu lesen war ein aussichtsloses Unterfangen. Als versuchte man, einen Text aus einer unbekannten Sprache zu übersetzen.
»Das ist alles, weiter hat er mir nichts mitgegeben«, sagte Viktor und hoffte, er konnte sie von seiner Ehrlichkeit überzeugen.
»Ich meine nicht nur mich… Vielleicht hat er noch für jemand anderen etwas mitgegeben?« Marina öffnete ihre schwarzen Augen ganz weit und sah Viktor konzentriert und durchdringend an. So, daß ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief.
»Nein, gar nichts…«
In der folgenden Pause leerten sie beide wieder ihre Gläser, und auch wenn nicht viel Whisky und Kognak in den Gläsern gewesen war, fühlte Viktor, wie aus seinem gewissen seelischen Alarmzustand allmählich ein physischer wurde.
Wieder sah Marina ihm fragend und mißtrauisch in die Augen. Viktor wäre gern gegangen, aber es kam ihm feige vor, die Frau allein mit der Nachricht sitzenzulassen, die er ihr gebracht hatte. Sie war eben einfach aus der Fassung. Auch als Koreanerin war sie schließlich eine Frau, die [184] gerade die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhalten hatte, von der Hand des Verstorbenen selbst geschrieben. Jede Frau mußte früher oder später einen hysterischen Anfall bekommen, wenn ihr die Nachricht ganz zu Bewußtsein kam. Eine Slawin würde jetzt bereits heulen und schreien, und er müßte den Rettungswagen holen oder selbst versuchen, sie zu beruhigen. Hier jedoch schien der Effekt völlig unvorhersehbar, obwohl ihm Marinas Verhalten unangemessen vorkam. Und dieses seltsame Mißtrauen, ihre Überzeugung, daß Viktor ihr nicht alles ausgehändigt hatte? Wie kam sie darauf?
Sie tranken wieder.
›Warum fragt sie mich nicht danach, wie ich ihn getroffen und was ich mit ihm geredet habe?‹ wunderte sich Viktor.
Aber Marina musterte ihn wieder mit dem unbewegten Blick einer Kobra und fragte noch mal: »Vielleicht hat er Ihnen doch noch etwas mitgegeben? Für eine andere
Weitere Kostenlose Bücher