Pinguine frieren nicht
peinlich.
»Kannst du ohne das auch nicht schlafen?« fragte sie.
»Doch«, sagte Viktor.
Er stand auf und kippte den Wodka ins Spülbecken. Dann sah er hinüber zu Sonja, als hoffte er auf ein Lob.
»Und wohin fährst du?« fragte sie und rieb sich die verschlafenen Augen.
»Ich muß nach Moskau.«
»Aber zuerst kleben wir noch die Anzeigen!«
Viktor überlegte.
»Wenn du willst, machen wir das jetzt gleich, solange draußen kein Verkehr ist«, schlug er vor.
»Ja.«
»Dann wasch dich schnell und zieh dich an! Aber leise, damit Nina nicht aufwacht!«
Zwanzig Minuten später traten aus dem Eingang des Sechziger-Jahre-Baus ein Mann und ein kleines Mädchen in den nächtlichen Hof hinaus. Das Mädchen hielt eine Dokumentenmappe in der Hand, der Mann eine Tube Minutenkleber.
»Wir gehen auf die Schtscherbakowstraße, da kommen tagsüber mehr Leute vorbei!« schlug Viktor vor.
[170] Sie liefen durch die menschenleere, schlafende Stadt, an zwei Kindergärten, Garagen und einer Schule vorbei. Sie liefen praktisch an Viktors Kindheit vorbei, der vor vielen Jahren in einen dieser Kindergärten gegangen war und die Schule Nummer 27 besucht hatte. Sonja lief neben ihm her und guckte neugierig nach allen Seiten und zum Himmel hinauf, als sähe sie zum ersten Mal die nächtliche Stadt.
Auf der Schtscherbakowstraße klebten sie die erste Anzeige an eine Trolleybushaltestelle. Dann kamen sie zu einer Reklametafel voller Wahlplakate. Im diffusen Licht der Straßenlaternen erkannte Viktor das ›ergänzte‹ Plakat des Konkurrenten und etwas weiter auch das Plakat des Chefs selbst.
»Komm, wir kleben eine hierher!« schlug Viktor vor und zeigte auf das Plakat des ehemaligen Konkurrenten.
Sonja nickte, und auf dem für die Zeit der Wahl narbenlosen Gesicht erschien ein viereckiges Papier mit einem gemalten Pinguin und seiner Vermißtenmeldung.
Die feuchte Nachtluft machte Viktor munter, und auch der ganze Spaziergang gefiel ihm jetzt. Es gefiel ihm, daß er mit Sonja unterwegs war, daß sie wieder beisammen waren und ein gemeinsames Ziel hatten – die Suche nach dem verschwundenen Mischa-Pinguin. Was machte es schon, daß Mischa nicht in Kiew war? Kinder suchen nicht da, wo sie etwas verloren haben, sondern da, wo es heller und näher ist. Wenn er Mischa in Moskau fand, würde er auf jeden Fall noch mal nach Kiew kommen, und dann konnte Sonja Mischa vor seinem Abflug in den fernen Süden noch einmal umarmen und sich von ihm verabschieden.
[171] Sie schmückten noch drei Trolleybushaltestellen mit Sonjas Anzeigen, ehe sie wieder vor einer Tafel mit Wahlplakaten standen. Die Stille wurde plötzlich von einem Rettungswagen zerrissen, der mit eingeschalteter Sirene mitten auf der verlassenen Straße dahinraste. Sonja und Viktor sahen dem Wagen hinterher und traten dann vor die Reklametafel.
»Die nächste!« kommandierte Viktor.
Sonja zog eine Anzeige aus der Mappe und reichte sie Viktor.
Da durchdrangen wieder ein Motor und Scheinwerferlicht die Stille der schlafenden Stadt. Das Auto fuhr nicht schnell. Viktor hatte schon angefangen, den Kleber auf der Rückseite der Anzeige zu verteilen, als das Auto neben ihnen anhielt. Drei junge Männer stiegen aus. Einer von ihnen hielt einen Eisenschaber in der Hand.
»Was klebt ihr da?« ertönte eine strenge Männerstimme, und der Schein einer Taschenlampe richtete sich auf Viktors Gesicht.
»Anzeigen von einem vermißten Pinguin«, erklärte Sonja ruhig.
Der Mann mit der Taschenlampe trat näher, leuchtete auf die Anzeige und kicherte.
»Und wieso nachts?« wunderte er sich laut, fuhr aber gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Und ich dachte, ihr treibt schwarze PR !«
Er rief seine Begleiter mit einer Kopfbewegung zu sich, und zu dritt gingen sie daran, mit dem Schaber und von Hand die Plakate vom Chef und seinem Konkurrenten abzureißen.
[172] Viktor beobachtete die Männer interessiert.
»Aber unsere Anzeigen reißt ihr nicht ab?« fragte Sonja plötzlich.
»Keine Angst!« Der mit dem Schaber drehte sich um. »Dein Pinguin nimmt nicht an den Wahlen teil, also reißt ihn auch niemand ab!«
Nach getaner Arbeit setzten die Männer sich in ihr Auto, einen himbeerfarbenen BMW , und fuhren weiter. Viktor folgte ihnen mit dem Blick und sah die roten Rücklichter aufleuchten, als der Wagen bei der nächsten Reklametafel haltmachte.
»Onkel Witja, was ist eine schwarze Peär? Ist das auch ein Tier?«
Viktor lachte. »Nein, das ist, wenn man jemandem schwarze
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