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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Tschetschenien…«
    [230] Viktor schüttelte den Kopf und sah zum Bus hinüber. Er hätte diesem Alten selbst gern ein paar klärende Fragen gestellt, aber dann würde der Alte Viktor für verrückt halten, weil er nicht wußte, wohin er fuhr.
    »Waren Sie schon dort?«
    »Nein.« Der Alte sah wieder zum Feuer hinüber. »Ich hätte ja gern einen Schluck Wasser… Die Kuh haben wir verkauft, die zwei Schweine geschlachtet, jetzt kann ich auch sterben. Ich werde sie betrügen.« Der Alte begann zu flüstern. »Ich tausche mich für meinen Sohn ein. Sie haben versprochen, ihn freizulassen, und ich habe gesagt, ich arbeite es ab, hab ja doch kein Geld, um ihn loszukaufen… sie haben es selbst gesehen.«
    Der Alte verstummte abrupt und seufzte schwer.
    »Ich habe diesen Parasiten alles gegeben, meine Frau mit nichts zurückgelassen. Jetzt lebt sie von Kartoffeln.« Er nickte in Richtung Feuer.
    »Und wer sind die?« fragte Viktor, während er auf das Gras zu seinen Füßen sah und zwei kleine Schnecken beobachtete, die die nächste sinnlose Grashalmbesteigung in Angriff nahmen.
    »Zwei sind Tschetschenen, der Fahrer ist einer von uns.« Der Alte fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
    »Fahren die anderen auch dorthin?« Viktor nickte zum Bus hinüber.
    »Ja, mein Junge, alle wollen dort hin. Vermißte suchen, etwas aushandeln… Mich haben sie jetzt ja so mitgenommen. Zuerst hieß es, erst im November, dann ging es doch früher… Und du, warum fährst du? Ist dein Bruder dort?«
    [231] »Nein.« Viktor sah dem Alten in die Augen. Sie waren strahlend blau und müde. »Ein Freund…«
    Dem Alten von Mischa-Pinguin zu erzählen wäre einfach blödsinnig gewesen. Vermutlich so blödsinnig, wie sich jetzt hier auf dem Weg nach Tschetschenien zu befinden. Er dachte wieder an den letzten Abend mit Bim und Eldar Iwanytsch, wie sie Blicke getauscht und ihn betrunken gemacht hatten. Und er hatte sich mit Freuden betrunken. Dabei hatte er eine Art Wunder erwartet, wie als Kind, wenn sein Vater ihn die Augen erst zu- und dann wieder aufmachen ließ. Genau so hatte er gestern abend die Augen zu- und heute erst wieder aufgemacht. Und er staunte tatsächlich. Da hatten Bim und Eldar Iwanytsch ihm einen tollen Trick gezeigt…
    Vor Viktors Augen schubste die etwas größere Schnecke die kleinere vom Halm und kroch weiter aufwärts. Viktor schnipste sie herunter.
    »Gebe Gott, daß du deinen Freund findest«, sagte der Alte und erhob sich.
    »Wie heißen Sie?« fragte Viktor.
    »Matwej Wassiliewitsch. – Ich geh mal in die Büsche.«
    Wieder war Viktor allein. Er aß den Rest Schmorfleisch auf, nahm Löffel und Jagdmesser und ging zum Feuer.
    Dort bedankte er sich bei dem Mann, der ihm seine Essensration gegeben hatte.
    »Wann fahren wir weiter?« fragte er.
    »Wenn es dunkel wird.«
    »Und dann?«
    Der Mann musterte Viktor scharf. Dann stellte er seine Teetasse auf die Erde und erhob sich.
    [232] »Komm, wir gehen zur Seite«, sagte er.
    Sie gingen ein paar Schritte.
    »Hat dir keiner was gesagt?« fragte der Mann verwundert, und Viktor bemerkte in seinem Russisch einen ganz leichten Akzent.
    »Nein…«
    »Warte, warte.« Der Mann nickte. »Dich haben doch Eldars Leute aufgeladen… Verstehe…«
    Und Rezvan – so hieß der Mann – erklärte Viktor kurz, was weiter geschehen sollte. Endziel der Reise war Atschchoj-Jurt, dort wurden sie übermorgen erwartet. Die Hauptsache bestand darin, sieben Kontrollposten zu passieren, aber das war kein Problem, sie fuhren diesen Bus jede Woche von Moskau, und bei den föderalen russischen Truppen hatten sie jede Menge Bekannte. Und auch die Föderalen hatten ein Interesse daran, daß diese stille Route zuverlässig funktionierte. Für sie fiel schließlich dabei auch das ein oder andere ab. In Atschchoj-Jurt nahm sich das örtliche ›Grüne Kreuz‹ der Passagiere an; das waren normale Leute, Tschetschenen, die bereit waren, Vermißte, Tote und in Gefangenschaft geratene ausfindig zu machen und bei Verhandlungen zu helfen. Je nach Bedarf.
    »Letztes Mal haben wir übrigens acht aus Tschetschenien rausgebracht«, fügte Rezvan stolz hinzu. »Und nur für einen bezahlt, die anderen haben sie so rausgelassen… Einen von der Hinreise haben wir verloren, aber er war selbst schuld. Hat nicht auf den Rat gehört. In den Bergen ist ein Rat kostbar wie Blut. Ohne – keinen Schritt!… Hast du ein Foto abgegeben?«
    [233] »Was für eins?« fragte Viktor.
    »Na von dem, den du suchen

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