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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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aber irgendwo über ihnen, ohne die Erdoberfläche zu streifen und kaum die Wipfel der Bäume berührend.
    Sie gingen bis zu der Baracke. Sewa trat an die Tür, nahm das Vorhängeschloß ab und stieß sie weit auf.
    »Soll ruhig ein bißchen durchlüften!«
    Etwa fünf Minuten lang standen sie schweigend draußen neben der Röhre. Viktor starrte sie an, ohne zu begreifen. Die Röhre kam ihm jetzt dünner vor, irgendwie zu klein. Wie ein Spielzeug neben der Röhre, an der er und Maga gestern entlanggewandert waren.
    »Diese Röhre… ihr Durchmesser war doch höher als ich!«
    »Die Pipelineröhre ist höher als du. Aber das hier ist eine Abzweigung.« Sewa leuchtete auf die schwarze Röhre, und im Lichtstrahl der Taschenlampe wurde eine Aufschrift in weißer Ölfarbe sichtbar: ›Guten Flug!‹
    »Und wohin führt diese Röhre?« fragte Viktor und leuchtete bis zu der Stelle, an der sie im Inneren des Gebäudes verschwand.
    »Leuchte aufs Dach!« riet Sewa ihm.
    [265] Auf dem Dach oben erblickte Viktor einen gewöhnlichen etwa zwei Meter hohen Schornstein.
    Er hielt es für einen Scherz. »Nein, ich meine diese Röhre. Wohin geht sie?«
    »Bist du immer so schwer von Begriff, oder bloß heute? Da oben hört sie auf.« Sewa wies auf das Dach. »Komm, ich bringe dir bei, wie man die Ventile auf- und zudreht!«
    Die Arbeit erschien Viktor zuerst unendlich mühsam, was noch dadurch verstärkt wurde, daß ihm ihr Zweck völlig unklar war. Und Sewa schwieg entweder auf Viktors Fragen oder antwortete etwas wie, es werde kein halbes Jahr vergehen und Viktor werde schon alles verstehen und er werde es sogar mögen!
    Fürs erste drehte er unter Sewas Anleitung die schweren eisernen ›Steuerräder‹ der Ventile. Und Sewa spielte den Ingenieur und beobachtete im Lichtstrahl seiner Taschenlampe den jeweiligen runden Druckanzeiger, unter dessen Glas die Meßnadel zitterte.
    »Noch weiter, weiter auf!« kamen Sewas Anweisungen. »Stop, dreh ein bißchen zu! Stop!…«
    In dem gewaltigen eisernen Röhrengebilde wurde etwas lebendig, und dieses Zischen oder Summen jagte Viktor Furcht ein. Furcht vor der unverständlichen Maschine, vor der Unklarheit und Unbestimmtheit, vor der Naturgewalt des Erdöls oder Gases, einfach vor dem abstrakten Druck, der alles hier ringsum in die Luft jagen konnte und das Dach dieser hölzernen Baracke abheben und dieses Stück Pipeline samt seinem mysteriösen Anbau in eine echte Bodenrakete verwandeln konnte.
    Schließlich kamen sie an das letzte Ventil, hinter dem [266] sich die Röhre in ein Dutzend andere Rohre aufteilte. Hier drehte jetzt Sewa persönlich auf, immer wieder unterbrechend und sich mit der Taschenlampe über den Druckanzeiger beugend. Viktor, dem vor Anspannung und Erschöpfung die Arme weh taten, dachte, Sewa wollte ihm Erholung gönnen. Es stellte sich heraus, daß Sewa nur einfach Viktor nicht diese verantwortungsvollste aller Tätigkeiten anvertrauen wollte.
    »Wenn du hier nicht sorgfältig arbeitest«, bemerkte er, während er mit Blick auf den Anzeiger das Ventil öffnete, »dann: Aus! Lebwohl, schöne Welt!«
    Als er mit dem letzten Ventil fertig war, seufzte Sewa erleichtert.
    »Jetzt ein paar Minuten Pause, und dann mit Gott!«
    In seiner Stimme hörte Viktor einen nervösen Unterton. Wieder drängten sich Viktor konkrete Fragen zu dieser Konstruktion auf, aber er stellte sie schon nicht mehr. ›Ich bin nicht blöd‹, dachte er. ›Ich werde es schon sehen und verstehen!‹ Und er verstand tatsächlich. Nicht alles und nicht gleich, aber als eine halbe Stunde später in der Seitenpipeline der Feuersturm tobte, waren seine Fragen schon weniger geworden.
    Er sah, wie Sewas Hände zitterten, als er das kleine Türchen am nächstgelegenen Ende der großen Röhre öffnete und ein zusammengedrehtes, brennendes Stück Papier hineinhielt. Er versenkte die Hand langsam in der Finsternis der Röhre, und sie verschwand darin wie im Rachen eines Ungeheuers. In Sewas Gesicht stand Furcht. Er berührte etwas dort drin mit der brennenden Papierfackel und hatte dabei Angst hinzusehen. Plötzlich gab es einen [267] ohrenbetäubenden Knall, und Eisen klirrte. Mit der Grimasse eines Gewichthebers sprang Sewa jäh zurück und entriß seine Hand der dunklen Öffnung. Wieder atmete er erleichtert auf, während er dem zunehmenden Getöse des in der Röhre eingeschlossenen Feuers lauschte. Dann schloß er das Eisentürchen dieser Feuerung, beleuchtete mit der Taschenlampe den letzten

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