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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sich von dem Stapel genommen hatte. Er saß unbequem. Hin und wieder stand er auf, ging zur Tür und spähte durch einen kleinen Spalt, in dem nur ein Stück von einem alten Holzzaun und Bäume dahinter zu sehen waren.
    Gegen Abend ertönte plötzlich draußen Magas Stimme. »Bist du da? Mach auf!«
    Viktor ließ den Dagestaner herein und schloß die Tür wieder hinter ihm.
    »Alles in Ordnung, ich habe dich in die Sklaverei verkauft«, erklärte Maga. »Wir können gehen, du wirst erwartet…«
    »In welche Sklaverei?« Viktors Miene verfinsterte sich. »Man nennt das bloß so«, versuchte Maga ihn schnell zu beruhigen. »Tschetschenen arbeiten doch nicht, für sie arbeiten Sklaven, deshalb sage ich ›Sklaverei‹… Wenn ich dich gratis gebracht hätte, hätten sie mir nicht geglaubt, sie würden denken, du bist vom Geheimdienst…«
    »Und für wieviel hast du mich verkauft?« wollte Viktor wissen und klang immer noch gereizt.
    »Keine Angst, nicht teuer… zweihundertzwanzig Grüne. Ich mußte handeln, zuerst boten sie nur hundert. Aber sie brauchen jemand…«
    »Und was muß ich dort tun?«
    »Du wirst schon sehen. Du wolltest doch zu Chatschajew! Dort ist ruhige ›Aschor‹-Zone, es wird nicht geschossen… Ich habe dir was zu essen mitgebracht…«
    Die letzten Worte stimmten Viktor milder. Maga reichte [259] ihm einen Streifen Dörrfleisch und Fladenbrot und begann auch zu kauen. Sie aßen im Stehen an dem trüben Fensterchen.
    Nachher verließen sie den Schuppen. Etwa drei Stunden wanderten sie schweigend in völliger Dunkelheit einen Waldpfad entlang. Sie überquerten eine Straße, suchten auf der anderen Seite seine Fortsetzung und gingen weiter. Der Pfad stieg jetzt an, verlor seine bisherige Geradlinigkeit und wurde immer gewundener. Viktor war müde. Er bat Maga, langsamer zu gehen.
    »Es ist nicht mehr weit!« ermunterte ihn der Dagestaner. »Weniger als einen Kilometer!«
    Der Pfad führte sie an eine große, schwarze Röhre, lief neben ihr her und senkte sich gemeinsam mit der Röhre auf der anderen Seite des Hanges abwärts.
    »Was ist das?« fragte Viktor und zeigte auf die Röhre.
    »Die Erdölleitung ›Freundschaft‹«, antwortete Maga mit einem Grinsen in der Stimme. »Jetzt immer an der Röhre entlang, und in einer Stunde sind wir da.«
    »Du hast doch gesagt, einen Kilometer!«
    »Nun, annähernd…«
    Magas Annäherung funktionierte nur in eine Richtung, als Vergrößerung. Der Weg zog sich noch etwa zwei Stunden hin, ehe der Dagestaner neben einem großen ›A‹ haltmachte, das mit weißer Ölfarbe auf die Röhre gepinselt war.
    »Siehst du.« Er wies auf den Buchstaben. »Hier beginnt die ›Aschor‹-Zone…«
    Maga hob irgendeinen eisernen Gegenstand vom Boden auf, klopfte damit zweimal an die Röhre und lauschte. [260] Dann führte er Viktor vom Pfad weg unter den nächsten Baum, wo Viktor zu seiner Verblüffung eine in die Erde gegrabene Sitzbank entdeckte.
    »Komm, wir setzen uns, damit sie uns sehen!« sagte Maga.
    Sie saßen nicht lange. Nach etwa fünf Minuten tauchte vor ihnen ein junger Kerl mit braunem Ziegenbärtchen auf, in einer wattierten Jacke und zerschlissenen schwarzen Hosen in hohen Gummistiefeln. Er nickte Maga zu, trat dicht vor sie hin und sah Viktor an. Dann holte er eine Taschenlampe aus der Jackentasche und musterte Viktor ein zweites Mal bei künstlicher Beleuchtung.
    »Die Waffen gib lieber ihm!« sagte der Junge und nickte in Magas Richtung. »Bei uns wirst du dafür…«
    »Er hat keine.« Maga war aufgestanden und hielt dem Jungen seine offene Handfläche hin.
    Der Junge legte etwas hinein.
    ›Ich bin verkauft‹, begriff Viktor.
    »Viel Glück!« sagte Maga zum Abschied, warf noch einen nachdenklichen Blick auf Viktors Stiefel, drehte sich um und ging die Röhre entlang davon.
    45
    Die ›Offshore‹-Zone bestand aus einem Gelände von unbekannter Größe und einer direkt an die Pipeline ›Freundschaft‹ angebauten Baracke. Was sich in dieser Baracke für eine Fabrik befinden mochte, konnte Viktor sich nicht vorstellen, aber andererseits wußte er schon, daß die ganze [261] Schattenwirtschaft in Tschetschenien auf Erdölklau aus ebendieser Leitung basierte. Chatschajews Betätigungsfelder schienen also ziemlich begrenzt.
    Viktor fielen vor Erschöpfung die Augen zu, während er mit dem Jungen in der wattierten Jacke an der Baracke entlangging. Der Junge hieß Sewa, war auch Russe und bezeichnete sich ebenfalls als Vermißter. Viktor, der die letzten

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