Pink Christmas (German Edition)
selbst in seinen kühnsten Träumen bisher gewagt hatte. Wieder ließ er den Blick bis zum Horizont schweifen. Was sollte er nur tun? Wie seinem Schicksal entkommen, das sich ihm hier in der unbarmherzigen, kahlen Kälte der Prärie ebenso grausam offenbarte?
Wieder schien Amutilla direkt durch seine Augen in sein Herz schauen zu können, denn er fuhr mit leiser, fester Stimme fort: „Du hast zwei Möglichkeiten, junger Krieger. Entweder du gehst denselben Weg, den ich eingeschlagen habe, verleugnest und versteckst dich und fliehst am Ende vor dir selbst. Oder du packst den Büffel bei den Hörnern und nimmst dein Schicksal an.“
Tschunka blinzelte und zog die Augenbrauen zusammen. Was meinte Amutilla damit?
„Wählst du den ersten Pfad, wird dich deine Schwäche über kurz oder lang ins Verderben stürzen, wie wild auch immer du diesen Tanz ums Feuer tanzen magst. Der andere Pfad dagegen wird dir mehr als Kraft und Mut abverlangen, aber vielleicht kann allein er dich vor der Ächtung deiner Sippe schützen. Du musst die mächtigste Stellung einnehmen, die einem Mann in deinem Stamm gebühren kann. Und damit meine ich nicht die Anführerschaft, Häuptlingssohn, denn jeder Anführer muss sich früher oder später offen seinen Feinden stellen.
Nein, der mächtigste Mann in einem Stamm ist der Medizinmann. Als Gelehrter, Heiler und Verbindungsglied zum großen Geist werden dir viele Möglichkeiten zur Verfügung stehen, deine Stammesmitglieder unbemerkt zu beobachten, zu beeinflussen und zu lenken, ohne dass man dir direkte Fragen stellen oder Zweifel säen darf. Vorausgesetzt, du bist ein guter Medizinmann, der seine Kunst klug und vernünftig einsetzt. Aber ich glaube, du hast die Gabe dazu, denn deine Hände sind warm, kräftig und doch sanft. Sie heilen schon allein durch ihre Berührung. Ich weiß es, denn ich habe mich ihnen anvertraut.
Doch noch etwas anderes ist von Vorteil: du wirst deine und andere Sippen genauer kennen als mancher Häuptling, ihre verborgenen Geheimnisse entdecken und verstehen. Du wirst diejenigen unter den Männern finden können, die zu uns gehören. Und du wirst ihnen leichter helfen können, als jeder Häuptling es vermag und will, denn über deinem Tun wird immer das große, göttliche Geheimnis liegen, das zu lüften niemand wagen wird.“
Amutilla verstummte und ließ nun Tschunka den Weg seiner eigenen Gedanken bis zum Ende folgen. Lange saß der junge Mann stumm vor ihm, völlig reglos, als wäre er der Welt entrückt. Amutilla wusste, dass Tschunka meditierte. Der Jüngling suchte die Verbindung zu Manitu, den er hier draußen irgendwie finden musste, wollte er den Sinn und die Aufgabe seines Lebens begreifen. Vielleicht lag ein Teil davon ja in der Begegnung mit dem Fremden, den ihm die Geister in diesen seinen Mannbarkeitstagen geschickt hatten. Tschunka hatte immer geglaubt, dass er eines Tages den Platz seines Vaters einnehmen und Häuptling seines Stammes werden würde. Für dieses Ziel war er gezeugt, erzogen und ausgebildet worden. Doch vielleicht war sein Weg ein anderer? Weil er anders war?
Der alte Medizinmann seiner Sippe war ein mächtiges und geheimnisumwobenes Stammesmitglied, an das sich niemand heranwagte, weder in Worten noch in Taten. Er wurde geachtet, bei allen wichtigen Entscheidungen um Rat gefragt und sein Urteil respektiert. Als Verbindungsglied des Stammes zu den Göttern trug er genauso viel Verantwortung für die Lebensgemeinschaft der zwanzig Tipis wie der Häuptling. Doch im Gegensatz zum jenem lebte er allein, musste keine Frau wählen, da er von der Gemeinschaft versorgt wurde. Er teilte sein Tipi mit niemandem, blieb unerreicht und unangetastet, gehuldigt und gefürchtet. War das der Preis für Tschunkas Leben?
Der Sonnenball wanderte rasch und unaufhaltsam über das Firmament, der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, während die beiden Indianer schweigend am Fuße des Hügels ausharrten.
Schließlich spürte Amutilla, wie Bewegung in den Körper des jungen Mannes kam, wie er wieder schneller atmete und schließlich den Blick aus der Ferne zurückholte, um ihn auf den Fremden herabzusenken. Verlangen stand in diesem Blick, ein männliches Begehren neben einem Rest kindlicher Unschuld. Tschunka hatte sich entschieden. Er hatte den großen Geist gefunden und wusste nun, was er tun musste. Das Funkeln in Amutillas goldbraunen Augen zeigte ihm mehr als deutlich, dass der erfahrene Krieger bereit war, ihm über die Angst hinwegzuhelfen, die
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