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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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flacher Atmung und einem Schmerz in den
Augenhöhlen. Danach bauschten sich meine Gedanken auf, hatten auf einmal lauter
Ausrufezeichen und Kursivierungen. Doch die Gründe waren verschieden: Entweder
hatte ich so lange keinem Menschen mehr in die Augen gesehen oder mich mit
niemandem mehr unterhalten, dass ich mich wie in [128]  einem Kaleidoskop fühlte.
Ich bekam eine Heidenangst, nicht mehr zur Welt um mich herum zu gehören, und
musste unbedingt jemanden anfassen, um den Kontakt wiederherzustellen.
    Die andere Panik war das genaue Gegenteil. Wenn mir jemand in den
Rücken starrt, spüre ich, wie seine Augen mich berühren. Diese Stelle beginnt
dann zu brennen, und meine Nackenhärchen sträuben sich. Dann fühlte es sich
plötzlich so an, als würden mich von überall her Leute ansehen, auch wenn gar
niemand schaute. Die Spucke lief mir im Mund zusammen, und meine Haut
kribbelte. Aus diesem Zustand fand ich schwieriger wieder heraus, denn je mehr
man darüber nachdachte, desto schlimmer wurde es, und die einzige Erlösung war,
allein zu sein. Dazu kamen die Wörter in meinem Kopf. Ich versuchte dann, mich
zu beruhigen, mir selbst zu versichern, dass alles in Ordnung sei und es keinen
Grund zur Panik gäbe, doch meine Gedanken steigerten sich bis zur Hysterie,
wurden immer eindringlicher, genau wie bei der anderen Sorte Panik. Wenn es so
weit war, dauerte es nicht lange, und ich befand mich auf einmal in einem
Zustand ganz ohne Wörter und Gedanken, vor Angst wie gelähmt, und es fühlte
sich an, als würde mein Herz bersten.

[129]  16
    Am nächsten Morgen wählte ich von einem öffentlichen
Telefon neben dem Serena Hostel Richards Handynummer. Meine Hände zitterten.
Ich würde behaupten, ich hätte den ganzen Koffer in einen Müllcontainer
geworfen und wolle damit, genau wie mit Lily, nichts mehr zu tun haben. Ich
würde mich dafür entschuldigen, dass ich ihn bestohlen und Lilys Kleider
weggeworfen hatte, aber wenn er mich um ein Treffen bat, wäre ich eben gerade
dabei, das Flugzeug nach London zu besteigen. Meine Haut prickelte, als ich die
Nummer von dem Papierfetzen aus meiner Tasche eintippte. Es ertönte jedoch nur
ein Summton, als ob er sein Handy abgeschaltet hatte. Nachdem ich noch ein paar
Minuten in der Hitze herumgestanden hatte, wählte ich die Nummer erneut –
wieder der gleiche Ton: abgeschaltet.
    Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte keine Lust, zum Hostel
zurückzugehen, und so ließ ich mich den Hollywood Boulevard entlangtreiben,
schlenderte ziellos allein durch das Wachsfigurenkabinett und fragte mich, was
eine wächserne Kreuzigungsszene in einer Cocktailparty von lauter
Hollywoodstars zu suchen hatte. Die Gesichter schienen vor meinen Augen zu
tropfen und zu schmelzen. Da war Charlie Chaplin in [130]  dünner Baumwollhose,
Marilyn Monroe mit verfilzten Büscheln beigen Haars und mir unbekannte amerikanische
Popstars in mottenzerfressenen Miniröcken. In dem praktisch leeren Souvenirshop
ließ ich aus einem Regal eine Marilyn-Monroe-Figur in meinem Rucksack
verschwinden, und mir fiel auf, dass ich nichts mehr gestohlen hatte, seit ich
dreizehn war. Die Mini-Marilyn war außerdem eine Duftkerze, weshalb oben aus
ihrem weich gewordenen Kopf ein schlaffer Docht herausragte. Ihr Gesicht war
verformt und entstellt. Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ ich sie in eine
Rucksacktasche gleiten, ehe ich meine Runde durch den Laden fortsetzte. Als die
Kassiererin von ihrem Handy aufschaute, um mich mit blauen Augen stumpfsinnig anzulächeln,
lächelte ich zurück. Überall standen zerlesene Bücher über Promis und die
Geschichte von Los Angeles herum, Poster von Sehenswürdigkeiten schmückten die
Wände. Für fünzig Cents kaufte ich eine Ansichtskarte mit dem
»Hollywood«-Schriftzug.
    Vor Lilys Totenwache hatte ich noch nie irgendetwas von Belang
gestohlen, immer nur unnützes Zeug mitgehen lassen, Sachen wie Kaugummi und Zeitschriften,
obwohl ich manchmal für Laurence Schmiere gestanden hatte, wenn er CD S klaute. Mein
allererstes Diebesgut war ein zwei Zentimeter dicker marmorierter Dauerlutscher
aus einem Supermarkt in der Nähe der Schule, da war ich zehn. Ich sah die in knisternde
Folie eingewickelte, glänzende Zuckermasse gegenüber der Kasse und wollte, dass
sie meinen Mund ausfüllte. Ich erinnere mich, wie ich ganz ruhig ins
Süßigkeitenregal griff und [131]  mir den Lutscher unter den Pulloverärmel schob.
Kein Verkäufer blickte in meine Richtung, und ich verspürte einen

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