Pink Hotel
Machtrausch.
Ich marschierte zur Tür hinaus, hüpfte lächelnd die belebte Straße entlang und
betrat eine U-Bahn-Station, wo sich meine Lippen um den dicken Brocken
künstlicher Süße schlossen. Spucke lief mir aus den Mundwinkeln; ich wischte
sie weg und drehte den in den U-Bahnhof strömenden Menschenmassen den Rücken
zu.
Danach klaute ich weiter ab und zu Kleinigkeiten, bis ich mit
dreizehn beim Diebstahl billiger Ohrringe erwischt wurde. Wie schon erwähnt,
hatte ich etwas Nichtssagendes an mir, weshalb ich häufig von Leuten übersehen
wurde, besonders als Kind. In der Schule wurde ich von den Lehrern nie
aufgerufen, und ich meldete mich auch nie, obwohl ich häufig die Antwort
wusste. Ich konnte schwänzen, und keiner merkte es. Keiner ärgerte mich. Ich
stellte ständig irgendwas an, bekam aber fast nie Probleme deswegen. Oma kochte
zwar für mich und räumte mein Zimmer auf, redete aber immer nur über mich, nie
mit mir. Egal wo ich war, mit meinen geklauten Kaugummis und Kugelschreibern in
der Tasche, niemand nahm mich wahr. Selbst als ich mit zwölf Jahren ein
Stipendium bekam und von der Grundschule auf die Oberschule wechselte, gelang
es mir relativ gut, übersehen zu werden. Ich handelte mir zwar mehr Ärger ein
als zuvor, hatte aber immer noch den Dreh raus, unerkannt zu bleiben, wenn es
sein musste.
Als ich ein Jahr nach dem Schulwechsel beim Ladendiebstahl erwischt
wurde, war ich hauptsächlich [132] erleichtert, dass mich endlich jemand bemerkt
hatte. Ich hatte ein Paar Ohrringe im Wert von 1,99 Pfund zu stehlen versucht,
und der Woolworth-Hausdetektiv führte mich in ein Kabäuschen voller Kameras ab
und zeigte mir ein Video, auf dem ich irgendwelche hässlichen
Silberimitat-Kreolen mitgehen ließ. Ich glaube, ich war mir nicht einmal
bewusst gewesen, dass ich sie genommen hatte – jedenfalls kann ich mich nicht
erinnern, es geplant zu haben. Mich selbst auf dem Bildschirm zu sehen war, wie
eine Doppelgängerin oder ein Gespenst zu sehen. Das graue Filmwesen würdigte
die Ohrringe kaum eines Blickes, sondern ließ sie einfach aus dem Regal in die
Tasche wandern, in einer einzigen fließenden Bewegung. Ihre Nase war fettig,
ihre Haut so blass wie das Haar. Bis auf einen weichen Zug ums Kinn und einen
bestimmten Schwung der Lippen hätte sie ein Junge sein können. Genau wie bei
einem Profizauberer gab ihr Gesicht nichts von den Handbewegungen preis. Es
versetzte mir einen Schock, in dem winzigen Hinterzimmer diese Aufnahmen meiner
Doppelgängerin zu sehen. Erstaunlich, dass es dem Hausdetektiv überhaupt
aufgefallen war, so nah war ich damals an der Unsichtbarkeit dran. Ich stellte
mir vor, dass ich nur blinzeln müsste und einfach aus der Welt verschwinden
würde. Der Detektiv verständigte Dad, wir füllten Formulare aus und schrieben
eine Stellungnahme, und ich erhielt ein einjähriges Hausverbot bei Woolworth,
was mich nicht allzu hart traf. Dad schien sich ein wenig zu ärgern, was für
einen Aufstand der Ladendetektiv wegen einem Paar hässlicher Ohrringe machte.
Ich entschuldigte mich, [133] und Dad ließ mich zur Strafe unbezahlte Schichten im
Café schieben.
Sieben Jahre nachdem ich den Lolli gelutscht hatte, vier Jahre
nachdem ich mich beim Diebstahl hässlicher Kreolen hatte erwischen lassen,
etwas über eine Woche nach der Beerdigung meiner Mutter und einen Tag vor dem
Geburtstag eines Mannes, der meine Mutter geliebt hatte, zog ich in Los Angeles
durch Autoreparaturwerkstätten und fragte herum, ob jemand Lily gekannt hatte
oder sich an ihr ausgefallenes Motorrad erinnerte. Die Maschine auf Lilys Foto
unterschied sich von gewöhnlichen Motorrädern, und es konnte durchaus sein,
dass jemand, der sich damit auskannte, sie oder sogar Lily wiedererkannte. Auch
wenn ich mich nie für irgendetwas interessiert hatte, was mit Motoren zu tun
hatte, wusste ich trotzdem ein wenig Bescheid, weil Dad Autos mochte und
ziemlich viel darüber redete. Mir machte es Spaß, durch die Werkstätten zu
ziehen und zu fragen, ob irgendwer schon mal von Eagle Motorcycles gehört hatte
oder wusste, wo ich den Laden finden könnte. Auf dem Foto aus ihrem Koffer
stand Lily unter dem Eagle-Motorcycles-Schild, ihre Finger mit den lackierten
Nägeln auf dem schnittigen silbernen Bike.
Ich hatte »Eagle Motorcycles« gegoogelt, aber nichts gefunden außer
einem Bikerclub im Stil der Hell’s Angels in South Carolina, der nicht zu dem
Foto von Lily und ihrer schlanken klassischen Maschine passte. Auf dem
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