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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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in
Lilys Schuhen stolpern. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns in die
Augen, dann lief der Dieb mit meinem Rucksack in der Hand die Straße hinunter.
Vielleicht hatte er aus unerfindlichen Gründen Angst vor David, vielleicht war
auch nur Davids alles überragende Größe der Grund. Ich machte ein paar Schritte
in die gleiche Richtung, war aber so konfus und durch Lilys Absätze so wacklig
auf den Beinen, dass ich über ein Loch stolperte, und als ich mich wieder
aufgerappelt hatte, war David an meiner Seite.
    Auf der Straße ging das Leben weiter. Gegenüber, vor der leeren
Eisdiele, gaffte eine seltene Kundin herüber, während sie an einer Waffel mit
Schokoeis leckte. Ihre Zunge kam mir sehr lang vor, schnellte vor und zurück
wie die eines Geckos in der Hitze. Ein älterer Mann rauchte an einer
Bushaltestelle Pfeife und musterte mich durch seine Rauchwolke. Sogar eine
Obdachlose glotzte mich an. In zerrissenen Leggings und mit einem Filzhut stand
sie da und umklammerte einen Einkaufswagen voller Decken, leerer Flaschen und
Konservendosen.
    »Was war denn los?«, wollte David wissen, während er sich nervös auf
der Straße umsah. Ich konnte den Schweiß unter meinen Achseln und das bisschen
Blut an meinen Knien riechen. Der Mann mit dem Nasenpiercing stieg in sein
Auto, doch ich schrie nicht und versuchte auch nicht, ihn aufzuhalten. Als er
die Wagentür zuzog, sah er mir sogar noch einmal in die Augen, aber jetzt war
David da, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Worte blieben mir im
Hals stecken, und [147]  fast war ich erleichtert über das Blut auf meinen Knien,
das zumindest Schmerz zum Ausdruck brachte.
    »Mein Rucksack ist gerade geklaut worden«, sagte ich schließlich
doch mit zittriger Stimme zu David.
    »Von wem?«
    »Er ist weg. Egal. War eh fast nichts drin.« Sekunden später war der
Mann tatsächlich weg, sein vollgemülltes grünes Auto fuhr die Straße runter und
verschwand.
    »Hat er dir weh getan?«, fragte David.
    »Nein. Alles okay, da war nichts drin,
was sich zu stehlen lohnt.«
    »Sollen wir die Polizei rufen? Was hat er mitgenommen?«
    »Nichts Wertvolles.« Ich hatte vielleicht zwanzig Dollar dabeigehabt.
Die Briefe, Fotos und Kleider waren alle im Hostelschließfach, der Schlüssel
dazu allerdings im Rucksack; ich nahm an, auf den hatte es der Mann abgesehen.
Bestimmt hatte er mich beobachtet und wusste, wo ich den Koffer aufbewahrte. Er
würde meinen Rucksack durchwühlen und ganz in der Nähe abwarten, ob ich ins
Hostel zurück- oder mit David wegging. Ich wollte nicht, dass irgendjemand den
Koffer bekam. Ich wollte ihn behalten. Richard hatte Lily jahrelang für sich
gehabt, er brauchte den Beweis ihrer Existenz nicht so dringend wie ich. Ich
zog in Lilys Schuhen die Zehen an.
    »Kann ich mal kurz dein Handy leihen?«, sagte ich zu David, und als
er es mir hinhielt, wandte ich ihm den Rücken zu, um die Auskunft nach der
Nummer des Serena zu fragen. Das Hostel lag gleich um die Ecke, [148]  aber ich
wollte nicht riskieren, dem Mann in die Arme zu laufen, falls er schon in der
Lobby stand.
    »Ein hässlicher Typ mit Stiernacken und Nasenpiercing«, sagte ich
Vanessa am Telefon. »Er wird mit dem Schlüssel zu meinem Schließfach ankommen,
aber gib ihm den Koffer bitte nicht, ja? Sag ihm, da ist kein Koffer in dem
Fach und dass du keine Ahnung hast, wovon er redet. Der Koffer bedeutet mir
sehr viel. Er gehört meiner Mutter. Sagst du es bitte auch Tony und allen, die
gerade arbeiten?«
    »Hast du die Polizei gerufen?«, erkundigte sich Vanessa.
    »Will ich im Moment noch nicht, aber bitte gib ihm nichts aus dem
Schließfach, okay? Bitte!«
    »Ich pass schon auf, dass niemand dir deinen Koffer wegnimmt«, sagte
sie beruhigend, als käme so etwas alle Tage bei ihnen vor. »Wenn der kleine
Wichser kommt, setz ich Tony auf ihn an.«
    »Vielen, vielen Dank«, sagte ich. »Es
ist mir wirklich wichtig.«
    »Kein Problem.«
    Ich dachte darüber nach, was im Rucksack gewesen war. Das
Enkidu-Buch, nicht fertiggelesen, ein halbes Sandwich, das vom Frühstück
übriggeblieben war, und ein Päckchen Zigaretten, erst am Morgen gekauft. Das
einzig Wichtige – abgesehen von dem Spindschlüssel – war mein Portemonnaie, das
Dad mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es war so lieb von Dad
gewesen, dieses Geschenk. Normalerweise bekam ich von ihm Sachen, die mit
Fußball zu tun hatten. Zu [149]  Weihnachten immer ein neues Trikot. Zum Geburtstag
einen nagelneuen

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