Pink Hotel
unpersönlich
wirkten. Nur zwei [162] der Todesanzeigen hatten ein Foto, und eines davon zeigte
Lily. Ihr Haar auf dem kleinen Bild war lang und dunkel, ihre großen, dick mit
Kajal umrandeten Augen ließen sie wie eine Manga-Comicfigur oder ein Tier mit
weit aufgerissenen Augen aussehen. Wie bei alten Zeitungen üblich, roch die
Seite nach Kreide.
»Lily hat das Leben bis zum allerletzten Augenblick in vollen Zügen
genossen«, stand in der Todesanzeige unter dem Foto, auf dem sie lächelte.
»Richard und ihre vielen trauernden Freunde werden sie nie vergessen. Eine
Totenwache, wie sie ihr gefallen hätte, findet im Hotel statt.« Ich sah noch
eine Weile auf die Zeitungsseite hinunter, strich mit dem Daumen über das Foto,
ehe ich sie wieder wie vorher zusammenfaltete und zwischen den beiden Modezeitschriften
im Regal verschwinden ließ. Ich legte alles genau so zurück, wie ich es
vorgefunden hatte, und hinterließ David ein Post-it auf seinem Küchentisch, auf
dem ich ihm für die Übernachtung dankte, und schrieb, dass ich das gern bei
Gelegenheit wiederholen würde.
[163] 19
Nachdem ich am Morgen aus Davids Wohnung gegangen war,
rief ich von einem öffentlichen Telefon aus im Serena an, um zu fragen, ob der
Mann mit dem goldenen Nasenpiercing wegen Lilys Koffer da gewesen war.
»Den haben wir ihm natürlich nicht gegeben«, sagte Vanessa. »Tony
hat ihm den Schlüssel abgenommen und ihm geraten, sich zu verpissen, sonst
würden wir die Polizei rufen.«
»Was hat er gemacht?«
»Noch ein bisschen rumgestänkert, dann ist er abgehauen«, sagte
Vanessa.
»Und wenn er noch mal kommt?«, fragte ich.
»Machen wir es wieder so. Irgendwie kam der mir ein bisschen
beschränkt vor. Aber mach dir bloß keine Gedanken, Süße. Der hat einfach nur
immer wieder gesagt, der Koffer würde nicht dir gehören, und ich bin stur
geblieben und hab gesagt, ich wüsste nicht, wovon er redet.«
»Er hat meiner Mutter gehört«, sagte ich.
»Vielleicht solltest du doch die Polizei rufen, wenn du dir Sorgen
machst«, sagte sie. »Besonders umgänglich hat er nämlich nicht gerade gewirkt.«
[164] »Hast du ihn heute schon gesehen?«
»Nein, aber ich halt die Augen auf«, sagte sie.
»Danke, Vanessa«, erwiderte ich und wusste genau, dass ich die
Polizei nicht rufen würde.
An dem Vormittag ging ich nicht ins Serena, sondern fuhr mit dem Bus
bis zur Ecke Hollywood Boulevard und Gower Street, um dort umzusteigen. Die
Haltestelle lag gegenüber einem Billig-Möbelhaus und einem umgebauten Theater,
wo man jetzt einen Kurs zum Thema »Wie man Erfolg im Leben hat« besuchen
konnte. In der Hitze wirkte alles zweidimensional, das smoggesättigte
Sonnenlicht drückte die Palmen an die Betonhäuser und den glasig gelben Himmel.
Alles klebte flach zusammen wie die aus Pappe geschnittenen Kulissen eines
Puppentheaters.
»Zu heiß, hm?«, sagte eine Frau mit Hut und einem zeltartigen
Männer-T-Shirt. Sie hatte eine Plastiktüte vom 99-Cent-Laden und einen
Rollkoffer dabei. Ich nickte und wandte mich von ihr ab, um zwei jungen Mädchen
zuzusehen, die auf Händen und Knien den Stern eines mir völlig unbekannten
Fernsehstars putzten. Eine von beiden schrubbte die Spalten der Bronze mit
einer Zahnbürste, die andere polierte den Marmor. Sie wechselten kein Wort
miteinander, runzelten aber beide die Stirn und kauten auf den Lippen. Die Frau
mit dem Hut schlurfte vor mir in den Bus, und Tauben flatterten erschreckt zur
Seite, als er sich in den Verkehr einreihte. Ich setzte mich ganz nach hinten.
An der nächsten Haltestelle belegte ein Trupp kleiner Mexikanerinnen die Sitze
um mich herum. Lachend und gestikulierend [165] schwatzten sie durcheinander, offenbar
über etwas wahnsinnig Komisches, so dass immer wieder winzige Schweißtropfen
durch die Luft flogen und auf meinen bloßen Schultern und Knien landeten. Ein
glatzköpfiger Weißer begann sich aufzuregen: Sie hätten keine Manieren und
beleidigten seine Trommelfelle, und wenn er ihnen das nächste Mal begegnete,
würde er ihnen mit einer Trillerpfeife in die Ohren blasen. Die Frauen lachten
und beachteten ihn nicht weiter; alle hatten freundliche Augen und ledrig
gegerbte Haut.
Ich war auf dem Weg ins Zentrum, wo ich nach Julie’s Place suchen
wollte, der Kneipe, in der sich August zufolge Lily und Richard kennengelernt
hatten. Die Adresse stand auf einem der Streichholzbriefchen aus dem
Reißverschlussfach von Lilys Koffer. In einem Gebäude aus dunklen Ziegeln
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