Pink Hotel
erst recht nicht ihre Freundin. Bereits nach wenigen
Monaten tat ich, als wäre sie gar nicht da, und sie redete in der dritten
Person über mich. »Warum muss sie so rumlaufen?«, sagte Daphne etwa, obwohl ich
direkt vor ihr stand. »Warum hilft sie nicht mehr im Café? Warum lächelt sie
nicht wenigstens manchmal? Warum verdammt noch mal ist sie immer so zornig?«
Am Anfang hatten sie und ich nur eine Gemeinsamkeit, nämlich eine
Art Schlafsucht, die ich von ihr übernahm. Sie war wohl schon immer eine
zwanghafte Schläferin gewesen, doch meine Abhängigkeit entstand erst, nachdem
Oma und Opa gestorben waren. In derselben Woche, als Oma in das Hospiz zog, zog
Daphne bei uns ein. Während dieser wenigen Monate, die Oma noch lebte, bemühten
sich zwei wichtige Menschen in meinem Leben verzweifelt darum, möglichst nicht
bei Bewusstsein zu sein. Oma schilderte in ihrer poetischen Nonsens-Sprache
ausführlich, dass sie ihre Umgebung nicht mehr verstand. Sie wollte unbedingt
sterben, rang [198] allein in einem düsteren Hospizzimmer mit ihrer Krankheit, in
dem es nach Schweiß und antiseptischer Seife roch. Sie wollte »da draußen«
sein. Sie wollte »nicht« sein. Sie wollte »Staub« sein und »jetzt bitte
sterben«. Währenddessen kam Daphne nach ihren Schichten im Café nach oben, warf
ein, zwei Valium ein und wachte erst zwanzig Minuten vor ihrer nächsten Schicht
wieder auf.
Im Schlafzimmer von Daphne und Dad herrschte bald ein
durchdringender säuerlicher Geruch. Ehe ich meine Liebe zum Schlaf entdeckte,
stand ich morgens zur Frühstückszeit meist an ihrer Tür und atmete die Ränder
der fast greifbaren Wolke ein. Jeder Schritt hinein in diesen Geruch
verursachte einen Adrenalinstoß: Ich hatte Angst, dass Daphne jeden Moment
aufwachte. Sie lag in die zerknitterten Laken gewickelt da, Arme und Beine von
sich gestreckt, mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck, als zähle sie im
Café Wechselgeld ab. Ohne dass ich sie berührte, konnte ich die intensive Wärme
spüren, die von ihr ausging und die ein angenehm klaustrophobisches Gefühl in
mir auslöste. Einmal wollte ich sie etwas fragen, brachte es aber nicht über
mich, sie zu wecken. Es war gegen siebzehn Uhr, und sie hielt ein Nickerchen,
etwas, das bei ihr den größten Teil des Nachmittags in Anspruch nahm. Seit sie
Nacht für Nacht in Dads Bett schlief, schien sie weniger statt mehr im Café zu
arbeiten. Tapfer schlüpfte ich durch die quietschende Tür, die einmal Omas und
Opas quietschende Tür gewesen war, schlich dann auf Zehenspitzen durch die
säuerliche Geruchswolke und streckte die Hand nach ihrem Körper aus. Wo sollte
ich sie berühren? Zögernd [199] schwebten meine Finger über ihrer bleichen
Schulter, als Daphne plötzlich zusammenzuckte und mein Handgelenk packte. Sie
ließ nicht los, offenbar jedoch ohne mich zu erkennen oder auch nur
wahrzunehmen. Sie schaute mir in die Augen, als wäre ich irgendein abstoßendes
Wesen aus ihren Alpträumen, und ich erstarrte entsetzt. Der Augenblick schien
in der Luft zu hängen, lange genug, dass mir die Mascarareste in den
Krähenfüßen um ihre Augenwinkel auffielen, dann lösten sich ihre Finger mit den
lackierten Nägeln von meiner Haut, und sie begann wieder zu schnarchen, während
ich mich rückwärts aus dem Zimmer in den Flur zurückzog.
Seltsamerweise passierte mir bei David einmal fast genau das
Gleiche. Meistens konnte er nicht schlafen, doch wenn, verfiel er in eine
komaähnliche Starre, aus der er kaum zu wecken war. Egal wie laut man Musik
spielte, Kaffee machte oder Telefone klingelten, nichts wirkte. In einer
solchen Situation betrat ich einmal zögernd das Schlafzimmer und streckte die
Hand aus, um ihn wachzurütteln. Er sah süß aus, so schlafend. Plötzlich packten
seine Pranken mein Handgelenk und hielten es so fest, dass ein Armband aus
dicken herzförmigen Quetschungen zurückblieb. Er behauptete nachher, sich nicht
daran erinnern zu können, wie es entstanden war. Auch er sah mir direkt in die
Augen, dann ließ er mich los. Da ich mich erschrocken gegen ihn gestemmt hatte,
plumpste ich rückwärts auf den Teppich. Er drehte sich unbeeindruckt auf die andere
Seite und fing an zu schnarchen.
[200] »Sie macht dich nach!«, schrie Dad Daphne an, ein halbes Jahr
nachdem meine Schlafexzesse begannen, als er schließlich mitbekam, dass ich
mehrmals in der Woche die Schule schwänzte und auch meine Freundinnen nicht
mehr traf. »Du bist jetzt ein Vorbild, Schatz, du kannst
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