Pink Hotel
nicht mehr nur eine
faule Schlampe sein.«
»Ich bin keine Schlampe«, erwiderte Daphne, die nicht begriff, worum
es ging. Sie war nicht die Klügste.
»Laut dem Arzt hat sie weder Pfeiffersches Drüsenfieber noch die
Schlafkrankheit. Schlaftablettensüchtig ist sie auch nicht«, sagte Dad
nachdrücklich zu Daphne. »Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, dass
sie dich imitiert.«
»Ich bin nicht ihre Mutter. Ich hab mich nie schriftlich
verpflichtet, eine verdammte Mutter zu sein.«
»Ich verlange ja auch nicht von dir, dass du eine Mutter bist!
Sondern nur, bei Bewusstsein zu sein. Wenigstens gelegentlich.«
Sobald Dad anfing, sich für meine Schlafgewohnheiten zu
interessieren, wurden sie noch zwanghafter. Wenn er darauf bestand, dass ich
zur Schule ging, schlief ich an meinem Pult oder auf dem Pausenhof ein. Lehrer
fanden mich schlafend im Einbauschrank, so verschwitzt, als hätte ich einen
Krampfanfall. Ich schlief hinter dem Spieleschuppen, in der Cafeteria oder
zusammengerollt in den Umkleideräumen der Mädchen. Mein Lieblingsgefühl war das
Hinübergleiten vom Wachsein zum Schlafen, wenn ich meine Gedanken nur noch halb
kontrollierte und sie mich zur anderen Hälfte kontrollierten. Schließlich
brachte Dad mich in ein großes weißes [201] Krankenhaus in einem Vorort, wo ich
probierte, einem schnauzbärtigen asiatischen Arzt von meinem Interesse an
halbkontrollierbaren Gedanken zu erzählen. Ich versuchte ihm zu erklären, dass
die Farben viel leuchtender waren, wenn ich nicht bei Bewusstsein war. Der Arzt
machte sich Notizen, während ich ihm schilderte, dass sich zwanzig Minuten,
nachdem ich abends die Augen schloss, bei Dschungel-Seancen im Kerzenschein
Gottheiten in mich verliebten. In anderen Nächten erfand ich perfekte Sprachen
voller perfekter lautmalerischer Wörter, die in einer mythischen Version
Afrikas Legionen kriegführender Stämme versöhnten. Ich berichtete, dass ich
häufig evangelikale Diktatoren ermordete und mich der Festnahme entzog, indem
ich in mit Leichen beladene Züge kletterte oder im Traum Tierpflegerin in einem
Miniaturzoo voller wadenhoher Giraffen und knöchelgroßer Gazellen wurde.
»Denkst du manchmal darüber nach, einzuschlafen und nie wieder
aufzuwachen?«, wollte der Arzt wissen. In seinem Behandlungszimmer standen eine
Menge Mahagonimöbel und wächserne Topfpflanzen herum, die bedrohliche Schatten
an die Wände warfen. In jeder Ecke waren Bücherregale, und es gab Bücherborde
über dem Schreibtisch – John Locke und das Paradox des Vergessens, Freuds
Unbewusstes, solche Sachen.
»Sie meinen sterben?«, sagte ich und betrachtete das hinter dem Kopf
des Arztes hängende Poster eines schlafenden Kleinkinds. Das Gehirn war halb zu
sehen, und es gab anatomische Beschreibungen jeder einzelnen Region, die beim
Schlaf eine Rolle spielte.
[202] »Glaubst du, der Tod ist so, als würde man lange schlafen?«,
fragte er.
»Nein«, sagte ich und kniff die Augen zusammen. »Ich denke nicht
sehr viel über das Sterben nach.«
»Fehlen dir deine Oma und dein Opa?«
»Ja. Aber ich glaube nicht an den Himmel.«
»Wo sind denn deine Oma und dein Opa jetzt?«
»In einer Schachtel unter Dads Bett«, sagte ich, »sie wurden nämlich
eingeäschert.«
»Fehlt dir deine Mutter?«
»Nein.«
»Wünschst du dir nie, du hättest eine Mutter?«
»Nein«, sagte ich und verschränkte die Arme.
»Fühlst du dich schlecht, weil sie dich zurückgelassen hat?«
Ich zuckte verlegen mit den Schultern.
»Fühlst du dich dadurch weniger liebenswert?«
»Was?«, sagte ich. »Was soll das heißen?«
»Macht es dir Angst, wenn Leute weggehen?«
»Was hat das damit zu tun, dass ich gern schlafe?«, sagte ich und
verlor augenblicklich jedes Interesse an dem Gespräch. Der Arzt war ein
schmächtiges Männlein mit dicken Brillengläsern. Ich stellte ihn mir als Kind
vor, während er versuchte mir klarzumachen, wie wichtig es sei, an der Realität
festzuhalten, mochte sie auch noch so banal erscheinen.
»Die Realität ist äußerst wichtig«, sagte er. Ich stellte mir vor,
wie der Doktor in der Schule gemobbt wurde, wie man ihn in Mülleimer stieß und
bespuckte. Er erklärte mir, ich sei zwar offensichtlich sehr kreativ und [203] habe
einen hohen IQ , dürfe mich aber von der realen
Welt und den Menschen um mich herum nicht abkapseln. Ich stellte mir vor, wie
der Doktor im Bett mit seinem Lover oder seiner Frau einschlief und ganz leise
schnarchte.
Er behielt mich über
Weitere Kostenlose Bücher