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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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Mondfinsternis
sei eine »geometrische Fügung«, die ihr namenloser Geliebter in einem seiner
Briefe erwähnt hatte. Das Gleiche schien mir für die tägliche Arbeit an einem
Filmset zu gelten. Um den Eindruck zu erwecken, dass die Menschen auf Leinwand
oder Bildschirm ein ganz normales Gespräch führten, musste die Geometrie
stimmen. Es gab ein Wirrwarr von Perspektiven, Blickrichtungen, die »passen«
mussten, und Überlagerungen von Szenen, deren Anschluss stimmen musste. Alle am
Set sprachen immer von der »180-Grad-Regel«, die besagte, dass zwei Personen,
die sich miteinander unterhielten, stets dieselbe Rechts-links-Beziehung zueinander
haben mussten. Befindet sich die Heldin auf der linken und der Held auf der
rechten Seite, dann sollte sie ständig nach rechts blicken und er nach links.
Würde man nach einem Schnitt mit der Kamera die Seiten wechseln, würde das den
Zuschauer verwirren. Ein Skriptgirl überwacht die Geometrie eines Drehbuchs.
Ich notierte, ob der Schauspieler das Set rechts oder links verließ, ob sein
Hemd in der Hose steckte oder nicht, ob er eine Armbanduhr trug oder ob seine
Manschetten zugeknöpft waren.
    Sam sah nur selten jemanden direkt an und merkte schon gar nicht,
was um ihn herum vorging. Los Angeles ist eine Stadt der flüchtigen
Seitenblicke – über Schultern, durch Autofenster –, und darin war Sam Meister.
Er hatte einen nervösen Seitenblick, wenn er sich einem Gespräch entziehen
wollte, einen schrägen [230]  Blick nach oben, wenn er log, einen verstohlenen
Blick, wenn er verlegen oder verängstigt war, und schleuderte einem einen
blitzschnellen Seitenblick zu, wenn er zu flirten versuchte. Meistens
unterhielten wir uns, wenn er mich vom Dreh nach Hause fuhr, wobei wir beide
unverwandt nach vorn auf das Heer gepanzerter Arbeiterameisen schauten, das
über die Freeways wimmelte. Während dieser und anderer Fahrten verriet er mir
seine Geheimnisse und merkte dabei kaum, dass ich dazu beharrlich schwieg. Er
erzählte mir von den Hunderten von Frauen, mit denen er in San Francisco
geschlafen hatte, bevor er nach Los Angeles gezogen war und seine Haare
verloren hatte, und wie ihn seine Exfrau auf einer ihrer alljährlichen
Weihnachtspartys betrogen hatte.
    »Wirklich während der Party?«, fragte ich.
    »In unserem Ehebett«, sagte er. »Aber ein paar Monate vorher hatte
ich eins von diesen jungen Dingern in der Küche, während meine Frau in der
Wanne lag und Tracy Chapman hörte.«
    »Hm«, machte ich, als wir uns in den Verkehr auf dem Freeway
einfädelten.
    »Du bist eine echt gute Zuhörerin«, sagte er ernst.
    »Hast du Lily gekannt?«, fragte ich Sam einmal.
    »Lily und weiter?«
    »Harris. Sie und David waren befreundet.«
    »David ist mit Informationen über sein Privatleben nicht besonders
freigebig. Vermutlich hast du das auch schon gemerkt.« Sam lachte. »Ich führe
das darauf zurück, dass er sich an den größten Teil seines Privatlebens nicht
erinnert! Besoffener Arsch. War sie seine Freundin?«
    [231]  »Ich glaub schon«, sagte ich.
    »Spionierst du ihm nach?«, fragte er.
    »Bin nur neugierig.«
    »Neugier ist die erste Stufe zur Hölle«, sagte Sam.
    Im selben Maß, wie Sams Zuneigung zu mir wuchs, nahm sein Interesse
an mir ab. Ich hörte ihm zu, wie er in Endlosschleife seine Persönlichkeit entwarf,
mir erzählte, was er war und was er nicht war. Seine Mutter las geradezu
besessen Romane über wahre Kriminalfälle. Sie hielt deshalb alles für ein
potentielles Verbrechen, wodurch Sam ein sehr nervöses Kind wurde. Was Sam
nicht ausstehen konnte: sich in Kinos an Leuten vorbeiquetschen, Krümel,
Menschen essen sehen, sämtliche weißen Saucen, Meeresfrüchte, Gespräche über
Käse, und die erste oder letzte Sekunde eines Films zu verpassen. Er musste
buchstäblich auf seinem Sitz hocken bleiben, bis der Abspann gelaufen war und
die Leinwand schwarz wurde. Jeden Abend nach der Arbeit und nach langen
Monologen auf der Fahrt quer durch das glitzernde Los Angeles setzte Sam mich
vor Davids Wohnhaus ab. Ich erzählte David nie von Sams Fetisch,
Frauenunterwäsche zu tragen, oder dass er keinen Sex mehr mit seiner Freundin
hatte, weil sie unten am Bauch einen Leberfleck hatte, von dem ihm regelrecht
übel wurde. Auf dem riesigen Leberfleck wuchsen zwei Haare, sagte Sam, wie
Antennen. Da es schwierig sei, Sex zu haben, ohne ihn zu berühren, habe er gar
keinen Sex mehr. Ich erzählte David nicht einmal, dass Sam eines Morgens den Wagen
beim Starbucks an

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