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Pink Hotel

Pink Hotel

Titel: Pink Hotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Stothard
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auf meine. Vom Bett
aus bot sich uns vor dem Fenster ein Panorama aus Dächern, Wäscheleinen und
Palmen.
    »Erzähl mir eine Geschichte«, sagte David plötzlich.
    »Was für eine?«
    [255]  »Egal. Eine Geschichte. Was du willst. Erzähl mir, wie du dich in
dieses Zwitterwesen aus Mensch und Taube verwandelt hast. Wenn du schon keine
Meerjungfrau bist.«
    »Meine Mutter zog ihr Taubenkostüm aus und trieb es im Theater auf
den billigen Plätzen mit meinem Vater«, sagte ich. Ich überlegte kurz. »Nein«,
sagte ich dann. »Es geschah, als ich von Banditen entführt wurde.«
    »Banditen?« Er grinste.
    »Banditen.«
    »Wie kam es denn dazu?«, wollte er wissen.
    »Wir waren in einer Kneipe in einem kleinen Dorf, das wir zufällig
auf der Durchreise passierten… Es ist grässlich heiß, und wir haben uns den
ganzen Tag gestritten… «
    »Du und ich?«
    »Nein. Nicht du und ich. Irgendein Typ«, sagte ich.
    »Worüber streiten sich du und dieser
Typ?«
    »Hauptsächlich darüber, dass er die Zahnpastatube nicht zugeschraubt
hat, und jetzt riechen alle unsere Klamotten nach Minze.«
    David lächelte.
    »Ein Tropfen kann das Fass zum Überlaufen bringen«, meinte er.
    »Wir trinken also Coca-Cola in dieser Dorfkneipe, die leer ist bis
auf einen zusammengesunkenen alten Mann und einen Barkeeper mit einer Haut wie
Dörrfleisch. Ein winziger Fernseher zeigt Wiederholungen der Hundert-Meter-Läufe
bei den Olympischen Spielen. Sämtliche Türen und Fenster stehen offen, aber die
Luft ist drückend und macht mir Kopfschmerzen. Wir sind seit [256]  Monaten
unterwegs, und ich habe das Gefühl, dass die allgegenwärtige Feuchtigkeit nun
auch durch meine Schädeldecke gedrungen ist. Mein Hirn ist wie feuchte Wäsche,
verschimmeltes Holz oder ein Bikinihöschen, das wochenlang zusammengeknüllt in
einer Kofferecke vergessen wurde. Ich muss mal eben verschwinden, mein Freund
hat ohnehin mit einem Auge immer den Sportsender im Blick…«
    »Scheißkerl«, warf David ein.
    »…und ich betrete einen kleinen ungepflasterten Hof hinter der
Kneipe.«
    »In welchem Land bist du?«, sagte David.
    Ich zucke mit den Schultern. »Es ist ein
Land in meiner Phantasie.«
    »Verstehe.«
    »Jedenfalls steht da draußen ein Mann und raucht eine Zigarette. Er
starrt mich finster an, und ich schaue weg, hinüber zu den Wipfeln der Bäume,
die allmählich in einen Dschungel übergehen. Als der Mann mir eine Zigarette
anbietet, zögere ich, doch er scheint ganz entspannt zu sein, und ich habe Lust
zu rauchen, also nehme ich sie. Er gibt mir Feuer, aber als der Filter meine
Lippen berührt, tritt so ein Ausdruck in seinen Augen, ein unangenehmer
Ausdruck. Das Ganze dauert nur einen Sekundenbruchteil, doch von diesem Blick
in seine Augen weiß ich, dass ab jetzt nichts mehr so sein wird wie vorher. Der
Rauch rollt meine Kehle hinab, was sich plötzlich so anfühlt, als hätte ich
eine Tüte Murmeln verschluckt und bekäme keine Luft mehr. Ich wende mich von
dem Mann ab.«
    [257]  »Eine vergiftete Zigarette?«, sagte David erstaunt.
    »Psst«, machte ich. »Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie
ich mich vollkotze, während drei Männer mich aus dem Kofferraum eines riesigen
Autos hieven.«
    »Du hast einen Zeitsprung gemacht.«
    »Ich bin ohnmächtig geworden. Ich weiß nicht, wo ich bin, und werde
auch gleich wieder ohnmächtig. Als ich zum zweiten Mal aufwache, liege ich auf
einem kleinen weißen Bett in einem weißen fensterlosen Zimmerchen.«
    »Wer ist dein Freund?«, fragte David.
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn ich es nicht bin, wer ist es dann?«
    »Er ist niemand. Er hat braune Augen und die Haare zu einem etwas
unordentlichen aschblonden Pferdeschwanz zusammengebunden. Noch während wir in
der Kneipe sitzen, löst er sich bereits aus meinen Gedanken. Das heißt, schon
bevor wir uns überhaupt getrennt haben, vergesse ich, wer er ist, und er existiert
nur noch in meiner Phantasie. Verstehst du, was ich meine?«
    »Deine Phantasie geht ganz schön ins
Detail.«
    »Bist du eifersüchtig auf jemanden, den ich mir gerade ausgedacht
habe?«
    »Vielleicht steht er eines Tages plötzlich vor dir, dein Mr
Pferdeschwanz. Klingt, als wäre er ein Idiot, aber vielleicht begegnest du ihm
eines Tages in einer Bar, im Bioladen oder was weiß ich, und erkennst ihn,
erkennst ihn als eine zukünftige Erinnerung. Oder er erkennt dich.«
    »Sollen wir ihn jetzt sofort umbringen? Nur um [258]  sicherzugehen,
dass er nicht in der Gemüseabteilung

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