Pirat des Herzens
der Knebel hinderte sie am Schreien.
Plötzlich lenkte Liam das Pferd von der Straße ab. Katherine entfuhr ein erstickter Schrei, als sie bemerkte, daß er das Pferd zwang, einen steilen, schmalen Felsenpfad hinunterzusteigen. Katherines Hände klammerten sich fester um den Sattelknauf. Sie würden sich mit Sicherheit den Hals brechen. Das Pferd schlitterte mit eingeknickten Hinterläufen den Steilhang hinunter. Tief unten konnte Katherine das Tosen der Brandung hören.
Das Pferd rutschte, schlitterte, stolperte den mörderischen Pfad nach unten. Liam trieb das Tier an. Katherine liefen die Tränen haltlos übers Gesicht. Endlich hatte das Tier sandigen Boden unten den Hufen und hüpfte vor Erleichterung. Einen Moment später war Liam aus dem Sattel gesprungen und zog Katherine vom Pferd. Auch die anderen Reiter hielten an. Katherine taumelte vor Erschöpfung. Liam fing sie auf.
Zornentbrannt schlug sie ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht. Doch Liam packte ungerührt ihre beiden Handgelenke und hielt sie fest. Er gab seinen Männern geflüsterte Befehle. Katherines Tränen flossen unaufhaltsam. Der Schurke hatte es gewagt, sie in ihrer Hochzeitsnacht zu entführen.
Männer näherten sich. Wie Gespenster tauchten sie aus dem Meer auf, zogen die Boote wie unförmige Schatten hinter sich her.
Katherine verlor jeden Mut. Sie glaubte, die riesigen Segel der Sea Dagger am Horizont zu erkennen, deren Segel wie Silberschwingen gegen den Nachthimmel schlugen. Es gab keine Flucht für sie. Bald hatte der Pirat sie auf sein Schiff geschleppt, und Gott allein wußte, ob er sie je wieder freigab.
Und dann wäre alles zu spät.
Liam hob sie hoch. Katherine versuchte, ihn wegzustoßen, warf gehetzte Blicke über die Schulter nach etwaiger Rettung, flehte zu Gott, John möge auf wunderbare Weise oben an den Klippen auftauchen. Doch nichts bewegte sich dort oben. Nur ein paar Bäume schwankten im Wind. Dann wurde sie in das Ruderboot gehoben.
Sie durfte nicht aufgeben. Als Liam sich ins Boot schwang, sprang Katherine auf, in einem letzten verzweifelten Fluchtversuch, blitzschnell und in tödlicher Entschlossenheit. Sie hing bereits halb über dem Bootsrand, bevor Liam ihre Absicht durchschaute und ihr nachsetzte. Das eiskalte Wasser raubte ihr den Atem, als sie in die Brandung sprang. Verzweifelt versuchte sie, an Land zu waten. Liam griff nach ihr, bekam aber nur ihren Umhang zu fassen. Katherine rannte weiter, achtete nicht auf ihre Nacktheit, nicht auf die bittere Kälte.
Sie zerrte an ihrem Knebel, dessen Knoten zu fest gebunden war, um ihn zu lösen. Dann hörte sie Liams klatschende Schritte hinter sich im Wasser, sein Keuchen, näher und näher. Katherine warf einen entsetzten Blick über die Schulter. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, daß ihr Schicksal besiegelt war. Doch die grauenvolle Erkenntnis spornte sie nur noch mehr an, um ihr Leben zu rennen. Liam packte ihr Handgelenk und riß sie nach hinten. Katherine sackte gegen ihn, schlug wild um sich, dann verloren beide das Gleichgewicht und stürzten in die eiskalte Brandung.
Einen Augenblick lang war sie frei. Sie raffte sich auf, rannte los, doch in der nächsten Sekunde hatte Liam von hinten die Arme um sie geschlungen und sie sich erneut über die Schulter geworfen. Wie von Sinnen bearbeitete sie seinen Rücken mit Faustschlägen. »Du kannst nirgendwo hinlaufen, Katherine«, knurrte er und watete zum Boot zurück, das in der Brandung schaukelte. »Jetzt gehörst du mir.«
Katherine war von blindem, tödlichem Haß erfüllt.
Das Ruderboot kam längsseits des Piratenschiffs. Katherine saß schlotternd auf der schmalen Bank, den Wollumhang eng um ihren eiskalten Körper gewickelt. Den Knebel hatte Liam entfernt. Er stand vor ihr und langte nach der Strickleiter. Dann streckte er ihr die Hand entgegen.
In Katherines Augen stand Mord. Sie weigerte sich, seine Hand zu nehmen. Sie würde sich ihm widersetzen, und wenn es ihren Tod bedeutete. Sie blickte in die schwarzen Fluten. Sollte sie den Sprung wagen?
Die See würde das Ende all ihrer Träume bedeuten. Aber damit würde sie auch Liam O’Neill für immer entkommen.
Fluchend zog er sie auf die Füße. »Närrin!«, knirschte er und schwang sie ein drittes Mal über die Schulter.
»Laßt mich los!« schrie sie gellend und bäumte sich gegen ihn auf.
»Wenn du weiter strampelst, werden wir beide naß, aber sterben wirst du nicht, Katherine«, entgegnete er seelenruhig.
Sie hörte auf, um sich zu schlagen.
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