Piratenblut
Oberfläche zu bringen. »Ich habe schon nasse Füße«, sagte Stineway.
Marina nahm eine Stakstange auf und drückte sie ihm in die Hand.
»Versucht immer wieder, ob Ihr Grund erreicht. Ich helfe den anderen.«
Ohne der Männer zu achten, warf auch sie die Kleider ab und landete mit einem Hechtsprung
neben Michel.
Weiter ging es, dem Ufer zu.
Das Wasser spielte bereits um die Hufe der Pferde. Einige wieherten. Kleidungsstücke trieben vom Floß.
»Haltet die Kleider fest, Mr. Stineway«, rief Marina. »Legt sie auf den Rücken der Tiere, bevor sie völlig durchnäßt oder abgetrieben sind.«
Stineway balancierte in einer Hand die Stange undsammelte hastig die Sachen ein. Dann stand er wieder auf seinem Posten.
Eine weitere Minute verstrich. Millimeter um Millimeter versank das Floß. »Grund«, jubelte die Stimme Stineways. »Ich habe Grund.«
Michel, Ojo, Jardín, Tscham und Fernando zogen sich hinauf und griffen nach den Stangen. Im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten sie sich vorwärts.
Hundert Meter noch — — fünfundsiebzig — — fünfzig — — und da geschah das Unglück. Alle standen sie bis zum Hals im Wasser. Das Floß war abgesackt.
»Haltet die Pferde«, rief Michel. »Sie dürfen uns nicht durchgehen.« Jeder tat, was er konnte.
Stineway stieß gurgelnde Laute aus und ruderte mit den Armen in der Luft. Es sah aus, als
kämpfe er verbissen um sein Leben.
Plötzlich kam ein Ruf von seinen Lippen.
»Himmel, wo ist meine Pfeife — — die Pfeife ist weg — — meine schöne Pfeife!«
Er fand Halt am Hals seines Pferdes, das sanft war wie ein Lamm. Es lief durch das Wasser und
schleppte seinen Herrn bis auf den Strand.
Nach und nach kamen auch die anderen ans Ufer.
Glücklicherweise schien die Sonne. Als das Notwendigste — so das Ausbreiten der
naßgewordenen Sachen — getan war, sanken die meisten erschöpft zusammen und schliefen sofort ein.
Michel nahm seinem Pferd den Sattel ab und bettete Marinas Kopf darauf. Die Frau hatte sich ein wenig zuviel zugemutet. Sie schlief wie eine Tote.
»Mein Freund«, sagte Tscham, »jetzt endlich habe ich Gelegenheit, dir für alles zu danken, was du für mich getan hast. Ich weiß, daß ich nur durch dich meine Freiheit wiedererlangt habe.« Michel schaute ihn verwundert an.
»Du irrst dich, Tscham. Sicher, ich hätte alles getan, dich aus dem unwürdigen Loch
herauszuholen; aber ich hatte keine Möglichkeit dazu. Daß der Prozeß zu deinen Gunsten
ausgegangen ist, hast du einem anderen mutigen Mann zu verdanken.«
Tscham blickte ihn fragend an.
»Wem?«
»Diesem da.« Michel deutete auf den schlafenden Stineway.
Tscham öffnete den Mund vor Staunen.
»Dem langen Engländer, der sich auf dem Floß so dumm angestellt hat? Du hältst ihn für mutig?«
»Auf seine Weise ist er ein tapferer Kerl. Er gibt auch einen anderen Mut als den, mit dem Heldentaten vollbracht werden. Mr. Stineway ist kein Held. Und er würde wahrscheinlich furchtbar lachen, wenn man ihn als solchen bezeichnen wollte. Aber er hat eine viel wichtigere Eigenschaft als Heldenmut und Todesverachtung. Er hat Zivilcourage. Diese Art des Mutes findet man auf der Welt viel, viel weniger als tapfere Generale und heldenmütige Ritter.« »Zivilcourage? Verzeih, ich kann mir unter diesem Begriff nichts Rechtes vorstellen.« »Wir haben ja Zeit. Ich will es dir erklären. Und ich will dir auch schildern, auf welche Weise dich der tapfere Mann aus den Klauen der Ostindien-Kompanie befreit hat.«
Michel berichtete alles, was er wußte. Der Radscha lauschte seinen Worten mit Aufmerksamkeit.Als der Pfeifer geendet hatte, fragte er:
»Hat auch der englische König oder haben seine Generale vor einer Zeitung Angst?«
»Wenn sie ein gutes Gewissen haben, dann brauchen sie keine Angst zu haben.«
Es war Mittag geworden. Die ersten Schläfer erwachten. Der Pfeifer hielt die Zeit des Aufbruchs für gekommen. Er weckte die anderen.
»Habt Ihr meine Pfeife nicht gesehen?« fragte Stineway, noch schlaftrunken.
»Sie scheint Euch teurer zu sein als Euer Leben«, lachte Michel. »Ich kann Euch leider nicht helfen. Sie wird wohl längst im offenen Meer schwimmen.«
»Traurig«, sagte Stineway wehmütig, »wirklich traurig. Sie war das letzte Andenken an meine Mutter. Ich hätte sie nicht rauchen sollen.«
Er wandte sich ab, und Michel sah, wie er sich heimlich mit dem Handrücken über die Augen fuhr.
Ein Mensch, dachte Michel, — wenn es doch viele von dieser Art gäbe! Eine halbe
Weitere Kostenlose Bücher