Piratenbraut
Nachbarschaft eröffnen. Ich hätte sie ratlos angeschaut. Anfang 2009 hatte die Partei laut »Wiki« bundesweit nur gut 800 Mitglieder, davon gerade einmal 58 in Berlin. Weniger als mein Tennisklub. Die Piraten waren eine Insiderveranstaltung. Als Kapitän Denis im vergangenen September zu den Piraten stieß, war er schon Mitglied Nr. 15.218. Und sollte ich demnächst einen Mitgliedsausweis bekommen, wird die Zahl darauf jenseits der 30.000 liegen. Allein in Berlin gibt es inzwischen mehr als 3000 Piraten, immerhin 15 von ihnen sitzen im Abgeordnetenhaus – und noch viel mehr in den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen.
So wie Crew-Mitglied Ralf. Er gehört seit acht Monaten als Pirat der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg an und schwärmt im »Caminetto« gerade von dem Bürgerbüro-Projekt: Das Büro könnte ein Treffpunkt für Piraten und Gleichgesinnte aus der Nachbarschaft werden, erläutert er den Mitstreitern am Tisch. Die Crew müsste sich zu ihren wöchentlichen Sitzungen nicht immer in der Pizzeria treffen – dann kämen vielleicht auch Leute, bei denen das Geld nicht für einen Kneipenabend reiche. Außerdem könnten die Piraten dort Bürgersprechstunden anbieten. Ralfs Idee: eine kostenlose Rechtsberatung für alle, die sich Musik oder Filme illegal aus dem Netz heruntergeladen und deshalb eine teure Abmahnung bekommen haben.
Kein schlechtes Angebot! Mein Freund hätte es vor ein paar Wochen mit Sicherheit angenommen. Damals war in seinem Büro gerade eine Rechnung über 900 Euro eingetroffen. Einer seiner Kollegen hatte über das Büro- WLAN knapp sechs Minuten des Spielfilms »The Tree of Life« hochgeladen und sich dabei erwischen lassen. Die beiden suchten einen Anwalt auf, der verfasste ihnen eine Unterlassungserklärung. Kosten: gut 300 Euro. Ich bin mir sicher, diese kostenlose Rechtsberatung könnte ein Renner werden.
Kapitän Denis drückt aufs Tempo. Es ist schon nach 22 Uhr. Zeit für eine Abstimmung über das Bürgerbüro. Alle am Tisch heben die Hand. Außer mir. Wie in Zeitlupe wenden sich die Köpfe zu mir. Ich sehe in erwartungsvolle Gesichter. Schließlich fragt Denis: »Du willst dich enthalten?«
Ich kapiere die Frage nicht. In der Begrüßungsrunde hatte ich klargemacht, dass ich noch gar keine Antwort auf meinen Mitgliedsantrag bekommen habe. Und nun soll ich plötzlich mit abstimmen? Hat mir keiner zugehört? »Bis jetzt«, wiederhole ich, »bin ich doch noch gar keine Piratin.«
Sofort beginnt ein heiteres Durcheinander am Tisch: »Vergiss den Mitgliedsausweis!« »Ich habe drei Anträge gestellt und acht Monate gewartet!« »Bei den Piraten muss keiner sechs Jahre Stiefel lecken, bevor er mitmachen darf!« »In unserer Crew können alle mit abstimmen – auch Gäste!« Piratenpartei mit gewöhnlicher Partei verwechselt – mein Fehler scheint unter Anfängern beliebt zu sein.
Mag sein, dass es hier nicht auf den Mitgliedsausweis ankommt. Aber mehrere ausgefüllte Anträge und monatelange Wartezeiten? Diese Perspektive macht mich doch ein wenig ungeduldig. Bloß bleibt mir keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Ich muss mich entscheiden. Beruhigend, dass es nicht gleich um die Zukunft des Europäischen Fiskalpakts geht, sondern um ein kleines Ladenlokal irgendwo in der Nachbarschaft. Spontan hebe ich meine Hand. Denis grinst zufrieden. Ich staune. Die Bedienung hat noch nicht alle Pizzen aufgetischt, da habe ich schon abgestimmt. So ähnlich stelle ich mir eine Mitmachpartei vor.
Klacker-di-klack. Am Ende des Tisches tippt ein Pirat das Abstimmungsergebnis in seinen Laptop.
= Crewtreffen am 24.05.2012 ab 20 Uhr = Hafen: Caminetto =
TOP 5 Büro FHain
– Meinungsbild: einstimmig für ein Büro
Wenige Sekunden später steht das Resultat auch im Internet. Denn jedes Treffen der Crew wird protokolliert – im »Piratenpad«, einem virtuellen Notizblock der Partei. In einem solchen »Pad« können mehrere Piraten gleichzeitig online an einem Text schreiben. Ihre Beiträge erscheinen in Echtzeit und sind in unterschiedlichen Farben abgesetzt, damit erkennbar ist, wer welchen Textbaustein beigetragen hat. So kann also die ganze Welt übers Internet augenblicklich nachlesen, was wir im »Caminetto« diskutieren und beschließen. Zwar interessiert das vermutlich kaum jemanden. Aber darauf kommt es nicht an. Die Piraten versprechen schließlich, transparenter zu arbeiten als andere Parteien.
Spätabends rufe ich daheim am Laptop das Protokoll meines
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