Piratenbraut
meinen Ausweis. Keiner will wissen, wer ich bin oder was mich in diesen säulenverzierten Renaissancebau treibt, der das Berliner Abgeordnetenhaus beherbergt. Der Pförtner wirft einen kurzen Blick in meine Umhängetasche, ich laufe durch die Sicherheitsschleuse, schon bin ich drin. Nur eine Frage hätte ich noch: »Wo bitte geht’s zum Sitzungssaal 107?«
Wenig später sehe ich den Piraten-Abgeordneten Martin Delius oben auf dem Treppenabsatz, er spricht mal wieder in eine Fernsehkamera. Schräg hinter ihm trottet jemand in ausgebeulten Cargohosen und an Gummiflossen erinnernden Zehenschuhen über den Gang. Das ist doch Simon Kowalewski, der frauenpolitische Sprecher der Fraktion! Gerade verschwindet er nach links durch eine geöffnete Tür. Saal 107. Hier bin ich richtig. In vier Minuten soll die 39. Sitzung der Piratenfraktion beginnen. Wie immer öffentlich. Ich eile hinter dem »Radikalfeministen« Kowalewski her und überlege mir, was ich gleich dem Türsteher sagen werde: dass ich Piratin bin und heute mal die Fraktionssitzung miterleben möchte. Doch neben dem Eingang zu Saal 107 steht nur eine Verkäuferin mit einem Servierwagen und bietet Getränke an.
Drinnen haben die ersten Abgeordneten an einem Kreis aus Konferenztischen schon ihre Laptops aufgeklappt. Hinten im Besucherbereich vor den hohen Fenstern aber sind fast alle Stühle frei. Wie anders war das im Herbst 2011, als die Piraten in Berlin die ersten öffentlichen Fraktionssitzungen abhielten. Ich erinnere mich noch an die Fernsehbilder aus gepackt vollen Fraktionsräumen. Doch was vor elf Monaten als kleine Revolution im Parlamentsbetrieb galt, scheint heute kaum noch jemanden zu interessieren.
Dabei sind die öffentlichen Fraktionssitzungen der Piraten im Abgeordnetenhaus eigentlich ein permanenter Ausnahmezustand. Schließlich tagen CDU, SPD , Grüne und Linkspartei in der Regel weiter hinter geschlossenen Türen, damit keiner mitbekommt, worüber die Parlamentarier bei ihren Strategietreffen streiten. Die Öffentlichkeit soll nur das erfahren, was die Fraktionen mit Absicht streuen oder offiziell verlautbaren.
Die Piraten hingegen haben nicht nur die Türen geöffnet, sie übertragen ihre Sitzungen als einzige Fraktion im Abgeordnetenhaus außerdem live ins Internet und protokollieren sie in Echtzeit, online, für alle einsehbar.
Türen auf, Livestream an, Transparenz hergestellt, ein erstes Wahlversprechen eingelöst? Keine Ahnung, ob sich einige Piraten das vor dem Einzug ins Berliner Landesparlament so ähnlich vorgestellt hatten – ich zugegeben bis vor Kurzem schon. Die Transparenzversprechen der Berliner Piraten fand ich einfach klasse: »Wir werden Maßnahmen umsetzen, die das Nachvollziehen des Handelns und Wirkens der gewählten Vertreter zulassen«, stand 2011 in ihrem Wahlprogramm. Und: »Transparenz ist keine Anordnung, Transparenz muss gelebt werden.«
Inzwischen lese ich solche Sätze nicht mehr ganz so unbefangen. Denn ein Jahr nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus streitet niemand leidenschaftlicher über diese Transparenzversprechen als die Piraten, von denen sie stammen. Die Debatten in den Mailinglisten würden ausgedruckt meterlange Papierbahnen ergeben.
Seit ich Piratin bin, habe ich einige Mitstreiter kennengelernt, die sich unter Transparenz im Parlamentsbetrieb etwas anderes ausgemalt hatten. Vor allem die Wahl des Parteipromis Christopher Lauer in den Fraktionsvorstand direkt im Anschluss an eine mehrtägige nichtöffentliche Klausur der Berliner Abgeordneten gilt vielen als Sündenfall. Die Personalie, so die Kritik, sei zuvor hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden und damit eine Farce gewesen.
Auch bei den Crew-Treffen im »Caminetto« wirft regelmäßig jemand den Piraten im Abgeordnetenhaus vor, sie hielten sich nicht an ihre eigenen Wahlversprechen. Unlängst zum Beispiel empörte sich ein Mitstreiter, ihn interessiere nicht, wann die Landtagsabgeordneten »in die U-Bahn einsteigen oder was die gerade beim Inder essen«. Er wolle wissen, »wie deren Politik zustande gekommen ist«. Doch eben das sei oft nicht möglich. Die Fraktionssitzungen seien zwar öffentlich, würden aber zunehmend zur »Abnickveranstaltung«. Wichtige Entscheidungen fielen zu oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Auch ich hatte mir unter Transparenz eigentlich etwas anderes vorgestellt, als von den Landtagsabgeordneten meiner Partei via Twitter zu erfahren, dass diese dicker geworden sind und deshalb nach einer
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