Piratenbraut
bespricht.
Mindestens zweimal pro Woche bin ich in Parteiangelegenheiten unterwegs. Ich demonstriere, tage und diskutiere so viel wie nie zuvor in meinem Leben: Ich habe ein paar Mal montags in der Parteizentrale ausgeholfen und donnerstags, sooft es ging, die Crew-Treffen besucht. Beim Neupiratenabend in einer Friedrichshainer Kneipe habe ich mir von einem Pferdeschwanz tragenden Gründungsmitglied einige Anekdoten aus der Anfangszeit der Partei erzählen lassen. Beim Sommercamp der Piraten auf einer Dorfwiese im Havelland durfte ich miterleben, wie Piraten selbst am Badesee über die Speicherkapazität ihrer ersten Computerfestplatten fachsimpelten – und anschließend mit ihnen im Nieselregen unter einer alten Linde veganen Gemüseeintopf aßen.
Als wir im Hof bei Felix das Fußball- WM -Halbfinale Deutschland gegen Italien anschauten, lauschte ich in der Halbzeitpause den Gesprächen über zerlegte Rechner, Computerspiele und Freifunkantennen auf Berliner Dächern. Und auf der Gartenparty bei Fabio und Julia stand ich sogar einige Minuten neben dem Geschäftsführer Johannes Ponader – allerdings ohne zu wissen, worüber ich spontan mit ihm reden sollte. Als mir was eingefallen war, war er plötzlich weg, zum Einkaufen oder so. Wenn ich es richtig verstanden hatte, fehlte noch veganes Grillgut.
Ich weiß noch, wie ich mich anschließend ein bisschen über mich selbst ärgerte: Wie konnte ich, die Neupiratin, nur so blöd sein und die Chance verpassen, mit jemandem wie Ponader ins Gespräch zu kommen? Aber dann wurde mir klar: Dass er und ich uns nichts zu sagen hatten, könnte auch ein Indiz sein. So richtig angekommen bin ich in dieser Partei nach hundert Tagen wohl noch nicht. Es fühlt sich immer noch merkwürdig an, wenn ich, wie vorgestern, beim Picknick mit Freunden gefragt werde: »Echt, du bist in der Piratenpartei?«
Womöglich sind diese Eingewöhnungsschwierigkeiten nicht allein meine Schuld. Vor einigen Wochen brachten altgediente Parteimitglieder einen offenen Brief an uns »liebe Neupiraten« in Umlauf. Das Schreiben war eine einzige Anklage. Die Partei sei kein »Spielplatz für Dahergelaufene, die einfach nur so mitmachen oder ihre persönlichen Ziele einbringen wollen«, wetterten die Verfasser. Dann folgte eine deutliche Aufforderung an alle, die das nicht einsehen wollten: »Verpisst Euch! Hört auf, das kaputt zu machen, was im Herzen der Idee ›Piratenpartei‹ steckt.« Bei den Piraten sei kein Platz für »Egoisten, Spinner, Scientologen, Nazis, Rassisten, Sexisten oder irrationale Vollidioten!!« Zumindest im letzten Punkt hätte ich den Verfassern gerne zugestimmt. Bloß war ich mir leider nicht sicher, ob auch ich damit gemeint sein könnte.
Offensichtlich ging den Verfassern das ständige Genöle der Neuen auf die Nerven. Diese Partei sei »kein Selbstbedienungsladen, in dem man Zucker in den Arsch geblasen kriegt und hin und wieder blöd auf Konferenzen rumsitzt«, polterten sie. Sie lebe davon, dass »Dinge« getan würden. »Wenn niemand sie tut, geht es nicht voran.« Deswegen komme »der Mitgliedsausweis manchmal etwas spät, oder der Liquid-Zugang, oder irgendwas«.
Was sollte das heißen? Bin ich etwa selbst schuld, dass ich noch keinen Mitgliedsausweis habe und auch mein Zugang zur Berliner Landesebene von Liquid Feedback nach hundert Tagen noch nicht da ist?
Das würde ich bestreiten. Im Gegenteil: Ich finde das Do-it-yourself-Selbstverständnis der Piratenpartei ja eigentlich gar nicht mal schlecht. Allerdings bekomme ich langsam den Eindruck, dass dieses viel beschworene allgemeine piratige Mandat, wonach jeder aufgerufen ist, Ideen – die nichts kosten und positiv für die Partei sind – selbst umzusetzen, gerne mal als Ausrede und Rechtfertigung eingesetzt wird, nach dem Motto: »Nerv nicht, mach’s dir halt selbst!«
Und leider kommt das nicht immer so charmant rüber wie beim Landesschatzmeister Enno Park, der uns Neupiraten vor einiger Zeit via Twitter zurief: »Piratisches Mandat für Mitgliedsausweise: Nehmt ’ne alte EC -Karte und schreibt mit nem Edding ›Piratenpartei‹ und eure Mitgliedsnummer drauf!«
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