Piratenbraut
»Jägerklause«, einer speckigen Friedrichshainer Kneipe, herum, mustere die Geweihe und Tierfelle an den dunkelrot getünchten Wänden. Und warte.
Die Piraten aus meinem Bezirk haben zum zweiten Lokalparteitag in diesem Jahr geladen. »Kommen lohnt sich«, hieß es vielversprechend in der Einladungsmail, »denn wer kommt, kann auch beim Liquid Feedback für unseren Bezirk mitmachen.« Natürlich wollte ich das! Und wer, dachte ich, würde das nicht wollen?
Immerhin soll hier und heute endlich ein sogenanntes »Klarnamen«-Liquid-Feedback auf den Weg gebracht werden. Das heißt: Eine virtuelle Meinungsbildungsplattform, bei der man sich leibhaftig und mit vollem Namen registrieren muss – damit die Abstimmungsergebnisse auch überprüfbar sind und keine Zweifel aufkommen, ob hinter all den pseudonymen Nutzern wirklich Parteimitglieder stecken. Wenigstens in meinem Bezirk wollen die Piraten endlich seriöse Meinungsbilder ermöglichen, damit die Ergebnisse für unsere Mandatsträger bindend werden können. Ich halte das für absolut wichtig.
Doch nun ist niemand da. Außer mir und gut 25 anderen. Die Versammlung ist nicht beschlussfähig. Kann das sein? Genauso war das doch auch vor zwölf Wochen beim ersten Bezirksparteitag im Kreuzberger Sportlerheim »Willi Boos«, als die Versammlung aus Mangel an Piraten ebenfalls verspätet losging und dann in hitzigen Endlosdebatten mündete. Damals hatte ich die geringe Beteiligung noch für eine unerfreuliche Ausnahme gehalten. Daran glaube ich nun nicht mehr. Meine Nachbarschaft soll eine Piratenbucht sein? Guter Witz!
Immerhin, der gepolsterte Klappsessel hier in der »Jägerklause« ist bequemer als mein Holzstuhl damals im Sportlerheim.
»Jetzt geht’s los!«, ruft jemand draußen vor der Kneipentür. Ein paar Piraten drängen nach drinnen. Ich richte mich erschrocken auf. War ich etwa kurz davor, in meinem ausrangierten Kinosessel einzunicken? Ist der Parteitag nun endlich beschlussfähig? Fehlalarm. Es hat nur angefangen zu regnen. Auch das noch.
Nötig wären auch diesmal wenigstens fünf Prozent der inzwischen angeblich 580 Piraten in unserem Bezirk. Falls es so viele Parteimitglieder gibt, warum interessieren sie sich nicht mal mehr für ihr eigenes Vorzeigeprojekt Liquid Feedback? Was ist los mit dieser Partei?
Um mich herum wird hektisch getwittert. »Wo bleibt ihr?« Und: »Kommt vorbei, liebe XH ainer Piraten!« Nach 58 Minuten vergeblichen Wartens bilanziert Sebastian aus meiner Crew Prometheus: »Ein trauriger Tag für die Demokratie ...« Und für diese »Mitmachpartei«, würde ich ergänzen.
Mich ärgert meine eigene Betriebsamkeit. Ich hätte wenigstens daheim schnell noch die Wäsche aus der Maschine holen oder mit der Wochenendzeitung bei einem Milchkaffee auf dem Balkon gemütlich auf das »Wo bleibt ihr?« meiner Parteikollegen warten können. Wahrscheinlich hätten sie sich dann sogar mehr über meine verspätete Ankunft gefreut als jetzt, wo ich von Anfang an da bin, lustlos in dem Kinosessel herumhänge, ab und an Spiegel Online auf meinem Smartphone aufrufe und auf Twitter verfolge, wie der Ton der Mitgliederakquise schärfer wird: »Wenn mal noch ein paar in XHain gemeldete Piraten ihren Hintern in die Jägerklause bewegen könnten?«
Pünktlich zum Bezirksparteitag erscheinen – so dumm werde ich mit Sicherheit kein drittes Mal sein. Mir kommen Zweifel, ob es bei einer so überschaubaren Einsatzbereitschaft taktisch klug ist, neben dem Bundes- und dem Landes-Liquid-Feedback nun auch noch eines für die Bezirksebene freizuschalten. Kaum vorstellbar, dass sich die Piraten aus Friedrichshain-Kreuzberg eifrig mit den lokalpolitischen Anträgen befassen, wenn sich bisher nicht einmal genug aufraffen können, heute den Startschuss zu erteilen.
Mehr als anderthalb Stunden liegen nun das rote Kärtchen, das blaue Kärtchen und der kleine Block mit Zetteln für die geheimen Abstimmungen in dem weißen Umschlag vor mir auf dem Tisch. »Jetzt noch schnell drei inaktive Piraten zum Austritt bewegen«, witzelt jemand bei Twitter, dann sei die Gebietsversammlung beschlussfähig. Draußen vor dem Saal dreht sich ein Pirat einen dicken Joint.
Die Organisatoren haben inzwischen beschlossen, schon mal mit ein paar Tagesordnungspunkten anzufangen, über die nicht abgestimmt werden muss. Und so berichtet Ralf, der Fraktionschef der Piraten in der Bezirksverordnetenversammlung, genau wie damals beim chaotischen Lokalparteitag im Juni auch heute über
Weitere Kostenlose Bücher